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Aus: Ausgabe vom 05.08.2024, Seite 6 / Ausland
Schweiz

Schweizer Neutralität ade

Verteidigungsministerin will militärische Kooperation mit EU beschließen – am Parlament vorbei
Von Dominic Iten
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Steht der EU sehr nah: Viola Amherd (r.) mit Ursula von der Leyen (l.) Mitte Juni auf der »Hochrangigen Konferenz zum Frieden in der Ukraine« auf dem Bürgenstock

Es ist schon länger bekannt, dass die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd ihr Land militärisch an die EU heranführen will. Ein Bericht des Schweizer Tagesanzeigers vom Mittwoch bestätigt nun konkrete Pläne, dass Amherd an zwei Projekten der sogenannten EU-Verteidigungsinitiative Pesco (Permanent Structured Cooperation) teilnehmen will. Dafür soll sie vom Gesamtbundesrat ermächtigt werden, mit der EU entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Die Tageszeitung beruft sich auf ein amtliches Papier, das demnach vom Verteidigungsministerium an diverse Bundesstellen verschickt wurde. Das Papier sei zwar nicht öffentlich, sein Inhalt aber »der Redaktion bekannt«.

Bereits im August 2022 hatte die Schweizer Verteidigungsministerin den Wunsch nach einer Beteiligung an Militärprojekten der EU geäußert. Ein Jahr später sagte sie in einer öffentlichen Rede, die Schweiz suche den regelmäßigeren Austausch mit der EU zu sicherheitspolitischen Themen, wolle enger mit der NATO kooperieren, sich an Pesco »und weiterhin an Vorhaben der Europäischen Verteidigungsagentur beteiligen«.

Pesco wurde 2017 ins Leben gerufen und zielt darauf ab, die »Verteidigungsfähigkeit« der EU zu stärken und die militärische Zusammenarbeit zu intensivieren. Nicht wenige sehen in der Initiative die Vorstufe zu einer europäischen Armee – sie war auch aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die militärische Abhängigkeit von den USA zu reduzieren. Seit rund vier Jahren können sich Drittstaaten an den über 60 Programmen beteiligen.

Das erste, für das sich die Schweiz – als auch die Ukraine – interessiert, nennt sich Cyber Rapid Response Teams (CRRT). Es soll die Cyberabwehrfähigkeit stärken und über die Bildung von gemeinsamen Reaktionsteams und Trainingsprogrammen die Zusammenarbeit im Bereich Cybersicherheit fördern. Das zweite Programm betrifft die Vereinfachung der Grenzübertritte für Militärpersonal und militärisches Material und läuft im Militärjargon unter dem Namen »Schengen der Streitkräfte«. Gemäß Verteidigungsministerium ginge es dabei in erster Linie um »Truppenverschiebungen für Ausbildungszwecke, Friedensförderung und Katastrophenhilfe«.

Erst im Juni hatte der Nationalrat beschlossen, dass sich die Schweiz nicht an »Bündnisfall«-NATO-Übungen beteiligen dürfe, und damit ein deutliches Zeichen gegen eine weitere Anbindung an das westliche Militärbündnis gesetzt. Dass sich die Schweiz nun an Pesco beteiligen soll, sorgt etwa beim Nationalrat der Schweizer Volkspartei (SVP), Mauro Tuena, für Unmut: Vor dem Hintergrund des Nationalratsentscheids, sei das »unverschämt«. Mit Ausnahme der rechten SVP stören sich die etablierten Parteien aber kaum an der vertieften Kooperation mit dem imperialen Block des Westens. Marionna Schlatter von den Grünen zeigte zwar für das Vorgehen der Verteidigungsministerin Unverständnis. »Dass das Parlament nicht mitreden darf«, sei anstößig. Sie finde es aber grundsätzlich »sinnvoll, wenn die Schweiz an den zwei Pesco-Programmen teilnimmt«.

Das entspricht dem bürgerlichen Tenor, den Politikerinnen wie »Die Mitte«-Nationalrätin Andrea Gmür-Schönenberger vorgeben: Die internationale Lage sei so brüchig wie seit Jahrzehnten nicht mehr, da seien solche militärischen Programme zu begrüßen. Gmür-Schönenberger steht offensichtlich unter dem Eindruck der »sicherheitspolitischen Zeitenwende«, die Amherd kurz nach Ausbruch des Ukraine-Krieges verkündet hatte. Damit einher ging ein außenpolitischer Kurs, den der damalige Bundespräsident Ignazio Cassis als Einsatz »für eine stabile Sicherheitsarchitektur, die nur multilateral entstehen kann«, umschrieb.

Seither bekräftigt eine ganze Reihe von Entscheiden diesen Kurs: Lockerungen des Kriegsmaterialgesetzes, die Beschaffung von 36 NATO-Kampfflugzeugen des Typs F-35A, oder der Beitritt zur europäischen Sky Shield Initiative. Damit rückt die Schweiz Stück für Stück an den westlichen Block und versucht gleichzeitig mehr schlecht als recht, den Schein ihrer Neutralität zu wahren. Pesco sei aus neutralitätspolitischer Sicht unbedenklich, meint jedenfalls das Schweizer Verteidigungsministerium.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gion H. aus Gion Honegger, Zürich (4. August 2024 um 22:43 Uhr)
    Die Schweizer »Neutralität« - soweit denn überhaupt von Neutralität gesprochen werden kann - wird seit Langem Stück für Stück entsorgt. Das begann schon gegenüber Nazideutschland mit einer wirtschaftlichen Kooperation (Am 18. Juni 1940 konnte der deutsche Gesandte Köcher nach Berlin melden: »Schweizer Bundesrat bereit, uns Kriegsmaterial unbeschränkt so viel zu liefern, als die Schweiz dazu in der Lage ist.« Dieser Entscheid kam am 21. Juni in einer gemeinsamen Sitzung von Bundesrat, der Finanz- und Wirtschaftsdelegation und der Ständigen Verhandlungsdelegation zur Sprache (dodis.ch/47071)), sowie dem schändlichen Kapitel an den Grenzen, wo jüdische Menschen zurück in den sicheren Tod der KZ's geschickt wurden. Seit Jahren gibt es u.a. Luftwaffenübungen in NATO-Ländern. Zur sog. Friedenskonferenz zur Ukraine auf dem Nobelberg Bürgenstock wurde Russland nicht eingeladen, auch Kritik an den massiven Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine hörte man von Cassis, Amherd&Co nicht ein Wort. Schon vor dem aktuellen Gazakrieg hetzte der höchst opportunistische Außenminister Cassis gegen das UNRWA-Hilfswerk, um die finanzielle Hilfe in einer Zeit der höchsten Not - nämlich des Genozides an Palästinenser:innen - dann ganz zu stoppen. Dann folgte sein Antrag an die Gesamtregierung - kurz nach dem »Tent-Massaker«! - die Hamas sowie Tarn- oder Folgeorganisationen gemäß der EU und den USA auch in der Schweiz als »Terrororganisation« zu verbieten. Da jedoch die offizielle -»neutrale« - Schweiz Sanktionen und Verbote jeweils nach UN-Maßnahmen richtet, muss nun ein entsprechendes Gesetz neu formuliert werden - die UNO wird darin kurzerhand rausgeschmissen! Die Schweiz zu 100 % im Fahrwasser der US-/NATO-Kriegsbemühungen, 1940 an der Seite des Nazi-Genozids an jüdischen Menschen und 2024 an der Seite des zionistischen Genozids an den Palästinenser:innen!

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