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Aus: Ausgabe vom 05.08.2024, Seite 8 / Inland
Verdrängung in der Mainmetropole

»Die FDP sieht sich nicht veranlasst zu handeln«

Hessen: Frankfurter Wirtschaftsdezernat lässt Verdrängung von Kleingewerbe freien Lauf. Ein Gespräch mit Michael Müller
Interview: Gitta Düperthal, Frankfurt am Main
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»Vermieter wollen maximalen Profit«: Mainhattans Kleingewerbetreibende haben es angesichts von Mieterhöhungen nicht leicht

Der »Kiosk 85« im Frankfurter Stadtteil Bockenheim ist seit 16 Jahren ein Ort, an dem Menschen sich begegnen; eine Poststelle gehört auch dazu. Jetzt muss er schließen. Welche Ausmaße hat diese Form der Verdrängung von Kleingewerben in der Finanzmetropole angenommen?

Der Kiosk ist nur ein Beispiel. Ständig müssen Kleingewerbetreibende ihre Läden schließen, da sie weder vor Mieterhöhungen noch vor Entmietungen geschützt sind. Vermieter wollen maximalen Profit, schmeißen alteingesessene kleine Ladeninhaberinnen und -inhaber raus. Dort ziehen große Ketten ein, etwa Döner- oder Burgerläden. Aufgrund von Profitinteressen werden Stadtviertel immer gesichtsloser und unpersönlicher. Häufig müssen auch, wie bei besagtem Kiosk, angeschlossene Postfilialen weichen. Es kommt zu Nahversorgungsproblemen im Stadtteil.

Jetzt regt sich Widerstand, es gibt einen Aufschrei. Innerhalb kürzester Zeit wurden fast 1.000 Unterschriften auf einer am Kiosk ausliegenden Liste für dessen Erhalt gesammelt. Das zeigt, wie gut er frequentiert ist. Solche Anlaufstellen gibt es immer weniger. Menschen merken, dass ihre Daseinsversorgung gefährdet ist. Die Frankfurter Stadtregierung muss aktiv werden, um Kleingewerbetreibende zu unterstützen.

Welche Möglichkeiten sehen Sie für die Anwohnerschaft, eigene Läden zu betreiben, die nicht gekündigt werden können?

Die Frankfurter Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Volt muss selbstverwaltete Stadtteilzentren unterstützen, in denen sich neben Kitas und Senioreneinrichtungen auch Kleingewerbe ansiedeln kann. Der Kiosk ist kein Einzelfall. Beim alteingesessenen Friseurgeschäft in der Innenstadt dachte sich der Vermieter nach zehn Jahren: »Da ist mehr Miete rauszuholen.« Im Nordend kommt ein altes Café, seit mehr als 20 Jahren Anlaufpunkt im Viertel, in Bedrängnis. Privatiers hatten das Erdgeschoss vermietet, deren Kinder übernehmen und konfrontieren es plötzlich mit einer Mieterhöhung von bis zu 70 Prozent. Alles nur, weil es keine Mietpreisbremse für Gewerbetreibende gibt. Aber die Mietbelastung können sie nicht eins zu eins an die Kunden weitergeben, sonst bleiben sie weg: Du kannst nicht für einen Espresso 4,50 Euro verlangen.

Wen sehen Sie in der Verantwortung?

Die Gewerbemietpreisbremse einzuführen, ist Sache des Bundes. Auf kommunaler Ebene gilt es, den Milieuschutz auszuweiten. Die soziale und demographische Struktur der Bewohnerschaft muss als solche auch vor Mieterhöhungen geschützt werden, um ein nutzungsfreundliches Milieu zu erhalten. Die Stadt muss begreifen, dass um den Innenstadtkern mit der Zeil herumliegende Stadtteile mit ihren Adern zunehmend veröden. Wir erwarten vom FDP-geführten Wirtschaftsdezernat, den Blick nicht immer nur auf das Bankenviertel zu richten. Wirtschaftsministerin Stefanie Wüst von der FDP steht in der Verantwortung.

Wieso sollte die Stadt kleine Läden schützen, wenn diese weniger Steuern generieren als Ketten und Supermärkte?

Die Stadtteilentwicklung muss gestärkt werden, damit Rentnerinnen und Rentner, damit die Familien sich wohnortnah versorgen können. Jeder Kiosk oder kleine Laden, der einmal verschwindet, kommt nie mehr wieder. Kleine Gewerbetreibende sind in ihrer Existenz bedroht, große Ketten übernehmen. Selbst in Außenbezirken Frankfurts verschwinden Cafés, Bäcker, Metzger, Friseure, Schuster etc. Die Einkaufsstraßen in den Vierteln verändern sich ständig zum Negativen, mit nur noch eindimensionaler Infrastruktur. Das ist bundesweit so.

Wie stehen die Chancen, das zu ändern?

Die FDP glaubt, der Markt regelt alles. Sie sieht sich nicht veranlasst, zu handeln. Menschen in Frankfurt aber zeigen Solidarität, stärken Kleingewerbetreibende, wecken ein Problembewusstsein für diese Form der Gentrifizierung und des Mietenwahnsinns. Gibt es einen Schulterschluss von bedrängten Mieterinnen und Mietern und den Kleingewerbetreibenden, werden die politischen Akteure unter Druck kommen.

Michael Müller ist finanzpolitischer Sprecher und Vorsitzender der Linke-Stadtfraktion in Frankfurt am Main

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