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Aus: Ausgabe vom 05.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kulturgeschichte

Eine Letter kommt immer gut an

Relikte des Leuchtreklamezeitalters: Das Berliner Buchstabenmuseum zeigt Schrifttypen ehemaliger Kaufhäuser von 1980 bis heute
Von Barbara Eder
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Zum Ausverkauf bereit: Die Buchstaben

Angeblich soll es ein Buchstabe gewesen sein, der den Arzt und Existenzanalytiker Viktor Frankl (1905–1997) zum Verbleib in seiner Geburtsstadt Wien veranlasst hatte. Der von den Nazis als Jude Verfolgte ließ sein Visum für die USA verfallen und richtete sich nach einem Wink seines Vaters. Während eines Spaziergangs durch die Ruinen der Synagoge in der Wiener Tempelgasse fand der Vater ein Stück Stein mit einem eingravierten Schriftzeichen. Es stammte aus einer Tafel mit den Zehn Geboten, die vor der Zerstörung des Bethauses über dem Altar angebracht war. Als Frankl das Relikt zu Gesicht bekam, war sein weiterer Weg besiegelt: Er wollte seine Eltern nicht im Stich lassen und entschied sich gegen die Emigration. 1942 wurde er gemeinsam mit ihnen und seiner Frau Tilly nach Theresienstadt deportiert und überlebte das Konzentrationslager als einziger.

Überbleibsel der Warenwelt

Schriftzeichen sind keine profanen Größen. Dennoch fügt sich nicht jeder Buchstabe im nachhinein nahtlos in eine sinnzentrierte Lebenserzählung ein. Die im Berliner Buchstabenmuseum angesammelten Lettern sind Überbleibsel aus der Warenwelt des vorigen Jahrhunderts – und wirken heute wie Anagramme des Absurden. Verteilt auf drei Räume liegen sie überlebensgroß unter den Rundbögen der Berliner S-Bahn. Die meisten haben ihre Strahlkraft längst verloren, andere sind bereits revitalisiert – und ergeben wieder Sinn: Mit leuchtenden Lettern wie diesen warb man einst für Brillen oder Bücher, pries Handtaschen, Hausrat oder Hotelzimmer an. Der gelenkte Konsum verlangte nach einer eigenständigen Lichtregie, und seine Götter trugen Eigennamen wie Tietz, Wertheim, Karstadt und KaDeWe, Hertie, Quelle, Schlecker und Neckermann.

Mit »Final Sale – vom Kaufhaus ins Museum« widmet sich die aktuelle Ausstellung im Buchstabenmuseum den typographischen und stadthistorischen Geschichten hinter den Konsumkathedralen und ihren Beschriftungen. Émile Zola nannte 1882 seinen einem Warenhaus gewidmeten Roman »Das Paradies der Damen« (»Au Bonheur des Dames«), reales Vorbild war das 1852 neu eröffnete Kaufhaus »Le Bon Marché«.

Walter Benjamin sah sich beim Passieren der Passagen mit dem surrealen Charakter der Warenwelt konfrontiert und machte die Entdeckung, dass das Reich der versklavenden Dinge jederzeit in revolutionären Nihilismus umschlagen könnte. Wie ein Fremder schlenderte er durch die Konsumtempel, beobachtete ihre Ausstellungsstücke und kaufte nichts. Das Environment der Warenhäuser sollte zum Staunen und Schmökern einladen, ihre Schaufenster erzeugten Begehrlichkeiten, die die Kaufkräfte erst erweckten. Der GPS-getrackte Warenverkehr der Gegenwart verzichtet auf auratische Inszenierungen dieser Art. Per Mausklick wandern die digitalen Doubles der Produkte im Internet sekundenschnell in virtuelle Warenkörbe.

Die Ära der großen Kaufhausketten ist längst vorüber. Die Beschriftungen sind jedoch geblieben – in allen erdenklichen Formen, Farben und Typographien. Der rote Schriftzug der 1882 von Hermann Tietz in Gera begründeten Kaufhauskette Hertie stammt etwa von Hubert Jocham und wurde im Zuge der Übernahme durch den Karstadt-Konzern mehrfach modifiziert. Im August 2009 versenkten ehemalige Mitarbeiter das Hertie-Logo in der Spree. Infolge des Verkaufs der verbliebenen Kaufhäuser an den britischen Finanzinvestor Dawnay Day und das Handelsunternehmen Hilco wurden deutschlandweit rund 2.600 Angestellte erwerbslos, während der Seebestattung des Schriftzugs nahmen sie Abschied von ihren Arbeitsplätzen.

Der Wert der Zeichen

Nicht alles, was lesbar ist, leuchtet auch. Im hinteren Teil des Museums wird der Herstellungsprozess analoger Buchstaben per Kurzvideo dokumentiert: Bei einer Temperatur von 750 Grad schmelzen Aluminiumbarren, anschließend gießt man das verflüssigte Metall in eine Matrize. Nach einer kurzen Abkühlung klopft ein Gießer den Buchstaben aus der mit Sand gefüllten Form. Übrig bleiben ein rauchender Sandhaufen und ein perfekt geformtes Schriftzeichen. Die allmähliche Verfertigung der Buchstaben beim Gießen wirkt heute nahezu anachronistisch, der Wert dieser Zeichen ist dennoch hoch. Im Januar 2020 wurden zuletzt einige der von Otto Wagner entworfenen Buchstaben aus der Wiener U4-Station Stadtpark gestohlen. Der Preis für eines dieser Objets trouvés liegt bei rund 100 Euro. Seit Herbst 2022 verschwanden deutschlandweit immer wieder Lettern aus den Schriftzügen von Hornbach-Baumärkten. Künstlerkollektive hatten die bis zu drei Meter hohen Leuchtzeichen entwendet und sie anschließend einem neuen Verwendungszweck zugeführt. Auf dem Schwarzmarkt des Schreibens gibt es zwar keine Bekennerschreiben, dafür aber viel Platz für Luxuskonsum: In einem Youtube-Video badeten Menschen inmitten des ovalen »O« von »Hornbach«, das kurzerhand zum Whirlpool umfunktioniert worden war.

Das vom Verein Buchstabenmuseum e. V. betriebene Museum im Berliner Hansaviertel bietet ausrangierten Lettern dauerhaft Obdach. Interessierte können in der angeschlossenen Werkstatt lernen, wie man die Glasröhren im Inneren der elektrifizierten Schriftzeichen restauriert. Vor Ort verleihen sie verblassten Typen ein zweites Leben. Eine davon steht schon eine Weile stumm im Eingangsbereich des Museums und wartet auf ihren Käufer. Es ist ein mittelgroßes »h«, reserviert für den Autor Holm Friebe. Der Mitbegründer der »Zentralen Intelligenz Agentur« hatte zu Beginn der vorherigen Dekade ein Blog namens »Riesenmaschine« ins Leben gerufen. Bevor die Buchstaben dort das Laufen lernten, leuchteten sie schon.

»Final Sale – Vom Kaufhaus ins Museum«, Buchstabenmuseum e. V., Stadtbahnbogen 424, 10557 Berlin, Donnerstag–Sonntag, 13–17 Uhr, verlängert bis Ende 2024

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