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Aus: Ausgabe vom 05.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
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Eine Delikatesse

Hannes Zerbe begleitet mit Jürgen Kupke in der Reihe »jW geht Jazz« live den sowjetischen Stummfilm »Fettklößchen« von 1934
Von Gisela Sonnenburg
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Sowjetisches Filmplakat für »Fettklößchen« (1934)

Nicht wenige Menschen essen gern. Manche etwas zu gern. Dann breitet sich das Hüftgold aus, während der Kontostand schrumpft. So oder so ähnlich mag es im 19. Jahrhundert der französischen Prostituierten Elizabeth Rousset ergangen sein. Allerdings wirkte sie mit einigen zusätzlichen Pfunden so aufreizend, dass sie anzüglich »Boule de Suif«, also »Fettklößchen« im Sinne von »Schmalzkügelchen« genannt wurde. Der Schriftsteller Guy de Maupassant erfand sie 1879 und setzte sie zur Zeit des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 in eine Postkutsche Richtung Le Havre. Die Novelle »Boule de Suif« wurde weltberühmt. Der sowjetische Regisseur Michail Romm adaptierte sie 1934 noch als späten Stummfilm. Am Dienstag ist unter dem Motto »Stummfilm und Musik« eine weitere Premiere zu Ehren der genannten molligen Person zu erleben: In der Reihe »jW geht Jazz« begleiten die Berliner Jazzkoryphäen Hannes Zerbe am Piano und Jürgen Kupke mit der Klarinette in der Maigalerie der jungen Welt live den Film.

Die Handlung hält sich eng an Guy de Maupassant. In der Kutsche sitzen – im Winter bei klirrender Kälte – außer Elizabeth einige Adlige und Bürgerliche unterschiedlichen Stands. Auf die junge, hübsche Kokotte sehen sie herab, ächten sie, grenzen sie aus. Erst, als Fettklößchen ihren Proviant mit den anderen teilt, die wiederum keinen eingepackt haben, wird man freundlicher zu ihr. In einem Gasthaus will die Gruppe alsbald übernachten. Doch dort werden die Reisenden von einem deutschen Offizier festgehalten. Sein Begehr: Fettklößchen soll mit ihm ihren Beruf ausüben. Als Patriotin lehnt sie es aber ab, einen deutschen Besatzer zu bedienen. Die Stimmung kippt.

Wie sich die vorgeblich feine Gesellschaft einem frivolen Mädchen aus dem unteren Stand gegenüber verhält, wird hier mustergültig vorgeführt. Alle, die den angeblich ehrbaren Klassen angehören, glauben, sie seien etwas Besonderes. An Anstand, Gefühl und Vernunft lassen sie es jedoch stark mangeln. Und obwohl das »schamlose Geschöpf« die Reisegruppe schließlich gewissermaßen rettet, wird die junge Frau am Ende wieder verhöhnt, herabgesetzt, zum Weinen gebracht. Der Weg dorthin ist allerdings erotisch pikant und von komischen Abgründen gesäumt.

»Der Film ist sehr humorvoll, aber auch sehr kritisch. Er fordert im Spiel eine gewisse Leichtigkeit, verbunden mit wirklichem Ernst«, sagt Hannes Zerbe. Er hat ihn wegen der vom Regisseur getroffenen Balance aus psychologischen Abläufen und spannenden Situationen ausgewählt. Schließlich handelt es sich um ein amüsantes Lehrstück über die Schlechtigkeit der Menschen in einem kapitalistisch geprägten Klassensystem. Übrigens sind auch zwei Nonnen unter den Mitreisenden, und was kann man über sie sagen? Sie sind keinen Deut besser als die womöglich Ungläubigen.

Die Originalmusik des Films von Michail Tschulaki entspricht dem damaligen Zeitgeschmack und trottet als orchestraler Operettensound durch die Geschehnisse. Damit nimmt es der hochkarätig tänzelnde Jazz von Zerbe und Kupke locker auf. Man darf sich auf einen Abend der Delikatessen freuen.

»Stummfilm und Jazz«: am Dienstag, 6. August 2024, 19.30 Uhr (Einlass ab 18.30 Uhr) in der Maigalerie der jungen Welt, Torstraße 6, 10119 Berlin. Eintritt: 10 Euro (erm. 5 Euro). Anmeldung erbeten unter maigalerie@jungewelt.de oder telefonisch: 030/53 63 55-54

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