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Aus: Ausgabe vom 05.08.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Kapitalismuskritik

Aus der Zone

Quinn Slobodians Buch über die »Löcher« im Territorium des Nationalstaats
Von Nico Popp
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Urbane Sonderzone, die nicht vom saudischen Staat, sondern von den Anteilseignern regiert werden soll: Modell der 2017 angekündigten Planstadt Neom am Roten Meer (Riad, 15.11.2022)

Deutschland ist ein Land, in dem neoliberale Akteure an Universitäten, im Staatsapparat, in Verbänden, Parteien und in den Medien weiterhin einen im internationalen Vergleich besonders starken Einfluss haben. Dennoch ist die Kritik neoliberaler Ideologie und Praxis nur wenig entwickelt – die wesentlichen Beiträge dazu kommen seit Jahrzehnten aus dem Ausland (und werden hierzulande oft nicht einmal rezipiert).

Der kanadische Ideengeschichtler Quinn Slobodian, der 2018 mit einer originellen Globalgeschichte des neoliberalen Denkens hervorgetreten ist, hat im vergangenen Jahr nachgelegt: In dem Buch »Crack-Up Capitalism« nimmt er Ideologie und Praxis einer »Welt ohne Demokratie« in den Blick, die seit den 1990er Jahren in den ökonomisch-politischen »Sonderzonen« Gestalt annimmt, deren Zahl ständig wächst. Längst, so Slobodian, sei es ein Fehler, die Welt so zu betrachten, wie sie »die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele« präsentiere: »Die Welt der Nationen ist übersät mit Zonen – und diese bestimmen die Politik der Gegenwart auf eine Weise, die wir erst zu verstehen anfangen.«

Die damit einhergehenden Überlegungen zum »Aufbrechen« von Nationalstaaten – nicht »von oben« durch Institutionen wie die EU oder die WTO, sondern durch Atomisierung »von unten« – sind inzwischen ein eigenständiger Substrang der neoliberalen Ideologieproduktion. Ein Protagonist, mit dem auch Slobodian in seine Erzählung einsteigt, ist der »libertäre« deutsch-amerikanische Milliardär Peter Thiel, der 2009 postuliert hat, dass die »Zahl der Länder« zunehmen müsse, wenn »die Freiheit« zunehmen solle.

Slobodian interessiert sich vor allem für das politische Konzept, mit dem »Löcher in das Territorium des Nationalstaats« geschlagen werden. Er zählt weltweit 5.400 Sonderzonen (ein erheblicher Teil davon in Ost- und Südostasien), in denen »Investoren« nach ihren eigenen Regeln und vor allem ohne »demokratische Aufsicht« schalten und walten: »Die Zonen sind quasi extraterritorial, zugleich Teil des Gastlandes und von ihm unterschieden.« Manche sind sehr klein, andere sind »urbane Megaprojekte« wie Neom in Saudi-Arabien oder Fujisawa in Japan.

Slobodian spürt den Anfängen dieser Praxis in Hongkong, London und Singapur nach. Seiner Ansicht nach hat insbesondere China hier für sein Entwicklungsmodell »gelernt« – längst würden »Anarchokapitalisten« in dem Land keinen »Monolith« mehr sehen, sondern das Modell eines »fragmentierten Autoritarismus«. Das ist eine Perspektive, mit der sich auch die linke Debatte über China in Deutschland früher oder später kritisch auseinandersetzen muss.

Nicht zu übersehen ist, dass Slobodian durchweg eine unterschwellige Idealisierung des eingerichteten »demokratischen Kapitalismus« unterläuft – wenn die Alternative zum Kapitalismus herkömmlicher Gangart der »Ultrakapitalismus« in den Sonderzonen ist, dürfte die alte Ordnung vielen Lesern gleich viel sympathischer erscheinen.

Quinn Slobodian: Crack-Up Capitalism. Market Radicals and the Dream of a World Without Democracy. Allen Lane, London 2023, 336 Seiten, ca. 23 Euro (Übersetzung bei Suhrkamp für 32 Euro)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (6. August 2024 um 14:36 Uhr)
    »Ein Protagonist, mit dem auch Slobodian in seine Erzählung einsteigt, ist der ›libertäre‹ deutsch-amerikanische Milliardär Peter Thiel, der 2009 postuliert hat, dass die ›Zahl der Länder‹ zunehmen müsse, wenn ›die Freiheit‹ zunehmen solle«. Besonders originell ist diese Idee nicht. Mit der Zerschlagung des sozialistischen Lagers rund um die Sowjetunion haben die Imperialisten (mit Hilfe Gorbatschows und Konsorten) die Zahl der Länder sprunghaft erhöht. Nach dem Motto: Spalte und herrsche!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (5. August 2024 um 23:34 Uhr)
    Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass da einer Äpfel und Birnen über einen Leisten schlägt und die 42 neu erfinden will. Leider wird im Artikel nicht erklärt, was Anarchokapitalisten sein sollen und welche Relevanz ihnen zukommt. Die linke Debatte in Deutschland über China sollte sich m.E. detailliert mit dem spezifisch chinesischen Umgang mit seinen Sonderwirtschaftszonen auseinandersetzen und die Unterschiede zum Umgang anderer Länder damit - sofern vorhanden - thematisieren. Hilfreich wäre auch eine Untersuchung, ob und wie China der Falle des mittleren Einkommens entkommen kann. So gerne es mir leid tut: Unter »demokratischem Kapitalismus« und »Ultrakapitalismus« kann ich mir - auch in Anführungszeichen - nichts vorstellen. Unter »Herr im Hause« und »Direktionsrecht« schon.

Regio:

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