Clinch ums Geschlecht
Von Oliver RastDie Welt zoomt ran, ganz nah. Alle Objektive scheinen auf eine Person gerichtet: Imane Khelif. Die Boxerin aus Algerien stellt sich der Pressemeute, Sonnabend, später Nachmittag in der North Paris Arena. Eine Weltergewichtlerin (bis 66 Kilogramm) am Rande des emotionalen Kollapses. Sie hält sich die bandagierten Handrücken vor Nasenspitze und Kinn, ringt um Worte, ringt um Fassung. Obwohl sie wenige Momente zuvor ins Olympiahalbfinale eingezogen ist, klarer Punktsieg gegen die Ungarin Luca Hámori. Damit hat Khelif Bronze sicher. Schon jetzt ein Triumph für die 25jährige und für das Land im Maghreb.
Oder doch nicht? Denn »Skandal, Skandal«, meinen zahlreiche Beobachterinnen und Beobachter. Khelif sei ein »Mann«, ein »biologischer Mann«. Und seit wann dürfen Typen Frauen vermöbeln? Straffrei, sogar durch Verband und Statut geschützt. Wer schützt hingegen »biologische Frauen«, die absolute Mehrheit im Wettbewerb, vor den Schlägern, vor trans Frauen, vor Intersexuellen im Seilgeviert? Wo bleibt die Fairness? Wo?
Zunächst: Seit Tagen findet eine Treibjagd statt – alle gegen Khelif. Es wirkt zumindest so. Dazu: gynäkologische Ferndiagnosen, medizinische Faktenchecks, mikroskopische Detailaufnahmen. Einer Person, von allen. So wirkt es. Der Auslöser: Khelifs Abbruchsieg am Donnerstag in Runde eins gegen Angela Carini. Die Italienerin kassierte zwei, drei Treffer, beriet sich mit ihren Trainern, warf das Handtuch. Sie sei noch nie so hart getroffen worden, selbst der Kopfschutz sei in Folge der Schlagwirkung Khelifs verrutscht, hieß es aus Carinis Ringecke. Die Neapolitanerin sank noch im Seilquadrat zu Boden, Tränen flossen. Der Auftakt von Häme, Hass und Hetze gegen die Boxerin aus dem algerischen Tiaret. So oder so: Dieser 46-Sekunden-Kampf dürfte in die olympische Boxgeschichte eingehen.
Rückblende: Khelif war im vergangenen Jahr bei der Weltmeisterschaft in Neu-Delhi gesperrt worden – direkt vor dem Finalkampf, wohlgemerkt. Die Gründe: zu hoher Testosteronwert und männliche XY-Chromosomen. Nur, davon schreibt der WM-Ausrichter, der Boxweltverband IBA in seiner jüngsten PM nichts. Statt dessen habe man Khelif und Lin Yu Ting aus Taiwan – ebenfalls Olympionikin in Paris – damals einem »gesonderten und anerkannten Test« unterzogen, »dessen Einzelheiten vertraulich bleiben«. Ergebnis: Beide erfüllten nicht die Teilnahmekriterien, hätten Wettbewerbsvorteile gegenüber den biologisch weiblichen Athletinnen. Das sei »eindeutig«.
Offenbar nicht für das Internationale Olympische Komitee (IOC), mit dem die IBA seit Jahren Zoff hat. Ein IOC-Sprecher erklärte zur »Causa Khelif«: »Das ist kein Transgenderfall!« Jede Starterin erfülle die Bedingungen. Sie seien laut ihrer Pässe Frauen. Sie nähmen seit vielen Jahren an Wettbewerben teil und seien nicht plötzlich aufgetaucht. Kurz: »Sie sind Frauen.«
Wohl auch belegt durch Dokumente der Familie Khelifs. Deren Vater zeigte Journalisten von The India Express die Geburtsurkunde seiner Tochter: »Weiblich.« Ferner: Imane ist als Mädchen aufgewachsen. Fotos aus der Kindheit zeigten dies. Zweifel bleiben, werden geschürt. Parallel kursieren Bilder im Netz, die Khelif optisch als »Mann« identifizieren würden, in der Freizeit, beim Sport. Zudem sei die Geburtsurkunde einem Stempel zufolge erst 2018 ausgestellt worden. Ein Manipulationsverdacht also.
Und eh, physische Vorteile bei Khelif blieben, auch als intergeschlechtliche Person. Besonders dann, wenn die Boxerin chromosomal männlich (46, XY) sein sollte: Muskulatur, Ausdauer, Bewegungsablauf und der »Wumms« sprächen dafür. Darauf rekurriert etwa Annika Ross in einem Onlinebeitrag bei Emma: »Die Schlagkraft bei Boxern, die die männliche Pubertät durchlaufen haben, ist im Vergleich zu Frauen um 162 Prozent höher.« Nur, unbesiegbar ist Khelif keinesfalls, neun Niederlagen in 47 Amateurkämpfen besagt ihre Kampfbilanz.
Und was sagen aktive Boxerinnen samt Umfeld? Einiges. Repräsentativ ist das nicht, eine Tendenz gibt es hingegen schon. Auffällig aber auch: Nicht alle wollen namentlich als Gesprächspartnerinnen genannt werden. Weil? »Toxisches Gebiet«, so eine Mutter einer Faustkämpferin gegenüber jW. Nebenbei verweist sie auf den Hashtag »Save Women’s Sports«. Und Thomas Nissen, Boxpromoter (»Boxen im Norden«) von Doppelprofiweltmeisterin Fai Phannarai, sagt: »Das gute Boxen macht aus: Augenhöhe, Chancengleichheit. Was nicht passt, sollte sich nicht im Boxring messen.« Eine Aktive, die sich vorwagt, ist Dilar Kisikyol. Die WIBF-Boxweltmeisterin im Leichtgewicht bemerkt auf jW-Nachfrage: »Es ist enttäuschend, dass Imane Khelif trotz Disqualifikation bei der WM 2023 wegen erhöhter Testosteronwerte nun bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris antreten darf.« Eine Entscheidung, die die harte Arbeit aller Athletinnen, die für faire Wettbewerbsbedingungen kämpften, untergrabe. Kisikyol: »Schade, dass der Boxsport sich damit selbst schadet und die Werte der Olympischen Spiele aufs Spiel setzt.«
Was nun? Eine Debatte müsse her, jenseits von geschlechtlicher Binarität, fordert die Sportjournalistin und Kolumnistin Mara Pfeiffer in einem Blogbeitrag für das Onlineportal »Bolztribüne«. Denn: »Körperliche Merkmale, die Vorteile oder Nachteile für verschiedene Sportarten mit sich bringen, gibt es zuhauf – und es ist nicht nachvollziehbar, wieso diese Debatte einerseits nicht, andererseits beim Geschlecht dermaßen verbittert geführt wird.«
Übrigens: Imane Khelif trifft am Dienstag abend auf Janjaem Suwannapheng aus Thailand. Der Fight um den Finaleinzug. Alle Objektive stehen dann wieder auf: Zoom.
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