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Aus: Ausgabe vom 06.08.2024, Seite 12 / Thema
Revolutionäre Vita

Aus der Art geschlagen

Die Junkerstochter, die Kommunistin wurde. Vor 140 Jahren wurde Meta Kraus-Fessel geboren (Teil 1): Sozialreform und Revolution
Von Ingar Solty
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Proletarische Selbsthilfe. Meta Kraus-Fessel engagierte sich an führender Position in der Internationalen Arbeiterhilfe (Filiale der IAH in Berlin, Herbst 1929)

Im Jahr 1933 verlässt der Schriftsteller Peter Jokostra, unter seelischen Schmerzen leidend, Berlin, um sich auf einem großen ostpreußischen Rittergut im ostpreußischen Przytullen als Landarbeiter zu verdingen. Er hofft, unter dem Joch harter Arbeit psychisch zu gesunden. Über die furchtbaren Lebensumstände des ostpreußischen Landproletariats unter der Knute des Rittergutsbesitzers Walter Fessel schreibt er nach dem Krieg das eindrucksvolle Buch »Heimweh nach Masuren«. Darin erscheint Fessel als ökonomisch und sexuell ausbeutender Tyrann, für den lesende Frauen »ein Greuel« waren, da »nur Spinner und Bekloppte (…) Bücher schrieben.« Tatsächlich kannte Fessel solche Frauen aus der eigenen Familie. Seine neun Jahre jüngere Schwester Meta war so eine. Ihre Geschichte ist ungleich bedeutsamer, aber noch ungeschrieben. Dies ist eine Vorarbeit.

Die wenigen, die sich, wie Inge Helm und Birgit Schmidt, an ihrer Biographie als Hobbyhistoriker probierten, produzierten zahlreiche Mythen und verbreiteten Fehlinformationen: Mal gilt Fessel als Soziologin, mal heißt es, sie habe studiert, mal wird sie zur Wienerin gemacht, mal heißt es, sie sei Jüdin gewesen und habe deswegen Deutschland 1933 verlassen müssen. Daten und Orte stimmen oft nicht. So vieles scheint der Phantasie der Autorinnen zu entspringen, dass selbst die Authentizität der Briefe, aus denen Helm zitiert, angezweifelt werden darf.

In der städtischen Fürsorge

Der Vater Carl Fessel war 1837 als Sohn eines Rittergutsbesitzers im sächsischen Rumpin bei Wettin an der Saale geboren worden. Die Mutter kam 1842 in Kraplau (heute Kraplewo) im ostpreußischen Kreis Osterode (heute Ostróda) als Tochter eines anderen Rittergutsbesitzers zur Welt. Meta ist das Nesthäkchen unter sechs älteren Geschwistern, die zwischen 1864 und 1876 geboren wurden. Im Dezember 1875 kauft der Vater für insgesamt 300.000 Mark ein 50 Hufen großes Rittergut in Przytullen (heute Przytuły) im Kreis Angerburg (heute Węgorzewo).

Meta Fessel kommt dort am 6. August 1884 auf die Welt. Gemeinsam mit ihrer Schulfreundin Hedwig »Heti« Schiemann, der Tochter eines sozialistisch orientierten Lehrers an der Volksschule, entwickelt sie alsbald ein kritisches Bewusstsein, das sich gegen die Ausbeutung der Landarbeiter auf dem elterlichen Rittergut richtet. Beide gehen nicht auf die Volksschule. Statt mit 70 bis 80 Landarbeiterkindern aller Altersgruppen in einer einzügigen Schulklasse zu hocken, werden sie von einem Privatlehrer unterrichtet.

1903 beenden Meta und Hedwig, die bei Fessels einzieht, die Ausbildung in der »höheren Töchterschule« in der Kreisstadt Angerburg. Auf Verlangen beider Elternpaare schließen sie daran jeweils ein »Haushaltsjahr« an, um sich heiratsfähig zu machen. Während ihre älteren Schwestern an andere Rittergutsbesitzer verheiratet werden, hat Meta andere Pläne. Gemeinsam mit der Freundin schließt sie sich 1905 der Arbeiterbewegung an und tritt in die SPD ein. Zugleich verlässt sie das Elternhaus und geht, gerade 20 oder 21 Jahre alt, nach Berlin, um dort eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu machen. Nach Angaben von Inge Helm lässt sich Meta ihr Erbe auszahlen und kappt die Verbindungen zu ihrem alten Leben in Przytullen.

Ob Meta ihre Ausbildung abschließt, ist nicht bekannt. Auf ihrer Eheurkunde steht später »ohne besonderen Beruf«. Vermutlich schon in Berlin lernt Meta 1906 oder 1907 ihren späteren Ehemann kennen: Siegfried Kraus. Der vier Jahre ältere Mann ist Wiener, Sohn eines jüdischen Gerichtsbeamten und steht am Anfang einer wissenschaftlichen Karriere als Philosoph und Psychologe. Am 24. April 1906 promoviert er in Leipzig über die »sozialwissenschaftliche Bedeutung des Bedürfnisses«.

Auch Kraus ist Sozialdemokrat und steht wohl dem rechten, sozialreformerischen Flügel nahe. Auf Empfehlung von Karl Bücher findet Kraus 1907 in Frankfurt am Main die Anstellung als »wissenschaftlicher Angestellter« bei der von Wilhelm Merton ins Leben gerufenen »Centrale für private Fürsorge«. Der geschäftsführende Leiter ist der Sozialpädagoge Christian Jasper Klumker (1868–1942) aus Hanau. Das Stellenangebot wird Kraus von Klumkers damaligem wissenschaftlichem Mitarbeiter übermittelt. Dieser ist niemand anderes als Othmar Spann (1878–1950), der bald eine antiliberale Theorie der Sozialreform und Konservativen Revolution in Österreich entwickeln wird. Vermutlich bringt Kraus Meta mit nach Frankfurt und verschafft ihr ebenfalls eine Tätigkeit bei der »Centrale«. Nicht ganz auszuschließen, dass sie sich auch erst hier kennenlernen. Von 1907 bis 1909 arbeitet Meta jedenfalls dort, wohl auf ehrenamtlicher Grundlage. Ihre Aufgabe besteht darin, Bittgesuche in der Armenpflege zu prüfen.

Die Beziehung des Paares scheint von Anfang an kompliziert. Denn in Frankfurt heiratet Kraus zunächst einmal eine andere Frau. Die Ehe, aus der sogar zwei Kinder hervorgehen, hält indes nicht lange. Vermutlich bleiben die Kinder bei der Mutter. Ob Kraus seine Frau für Meta verlässt, ist nicht geklärt, liegt allerdings im Hinblick auf die kurze Zeitspanne zwischen Eheschließung, Scheidung und erneuter Eheschließung nahe. In die Zeit der Annäherung fällt der Tod der Mutter. Als sie am 4. September 1908 in Przytullen stirbt, ist Meta gerade 24 Jahre alt. Als auch der Vater stirbt, übernimmt ihr Bruder Walter Ende Juni 1910 das Rittergut. Ob Meta zur Beerdigung ins ferne Ostpreußen zurückkehrt, ist nicht bekannt. Anzunehmen ist es nicht. Ihre Prioritäten sind ohnehin andere. Sie will heiraten. Zweieinhalb Monate nach dem Tod des Vaters heiratet die 26jährige Vollwaise am 14. August 1910 Siegfried Kraus.

Fessel und Kraus geben sich das Jawort in Schreiberhau (heute Szklarska Poręba) im niederschlesischen Kreis Hirschberg (heute Jelenia Góra) im Riesengebirge. Schon im Juni war Kraus »mit der Errichtung des städtischen Kinderfürsorgeamts« in Brünn beauftragt worden. Der Aufenthalt in Brünn bleibt Episode. Im Januar 1911 kehrt das junge Ehepaar nach Frankfurt zurück. Kraus entwickelt sich nun zum Experten im Bereich Sozialarbeit und Sozialpsychologie. Auch Meta steigt, obwohl nicht studiert, in die wissenschaftliche Arbeit ein. Im Spätsommer 1911 beteiligt sie sich an einem größer angelegten Forschungsprojekt des Nationalökonomieprofessors Paul Arndt von der Frankfurter Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften. Arndt, zu dieser Zeit noch sozialliberal orientiert und noch nicht »förderndes Mitglied der SS«, war vom »Wissenschaftlichen Ausschuss der Heimarbeitsausstellung Frankfurt a. M. 1908« beauftragt worden, die Heimarbeit in Südhessen zu untersuchen. Nach etwas mehr als zwei Jahren veröffentlicht Meta ihre Forschungsergebnisse: »Die Nadel-, Perlkranz- und Taillenstabindustrie im Taunus«.

Metas »Gewinnung des Urmaterials« erfolgt durch »persönliche(n) Besuch in den Betrieben, bzw. in den Haushalten von Heimarbeitern« und teilweise auf der Grundlage eines vom Ausschuss entwickelten Fragebogens. Der von Arndt herausgegebenen Arbeit von Meta ist eine kurze Studie von Max Quarck vorangestellt. Quarck, seine spätere Frau Meta Hammerschlag, Meta und ihr Ehegatte bilden in Frankfurt ein enges Team. Eine gemeinsame Weggefährtin, mit der sich Meta austauscht, ist Johanna Tesch. Die radikale sozialdemokratische Gesinnung, deren Berechtigung Meta angesichts der katastrophalen Arbeitsverhältnisse in der Heimarbeit erkennt, verbindet sie alle.

Ab dem Frühjahr 1914 leitet Siegfried Kraus das städtische Fürsorgeamt und widmet sich zunächst dem »Berufsschicksal Unfallverletzter«. Vermutlich verschafft er auch hier seiner Frau wieder eine Anstellung. Die Tätigkeit wird im August vom Beginn des Ersten Weltkriegs eingeholt und alsbald geprägt durch die Kriegsfürsorge und die »Sorge für Kriegsinvaliden«. Die Eheleute arbeiten nun eng zusammen. Gemeinsam richten sie die »Beratungsstelle für Kriegsinvalide und Hinterbliebene von Kriegsteilnehmern« ein. Zusammen mit Quarck, Hammerschlag, Klumker und anderen organisieren sie die großen Frankfurter Volksspeisungen, um den Hunger zu mildern, der im »Steckrübenwinter« dramatische Auswüchse annimmt. Zugleich engagiert sich Meta in der proletarischen Frauenbewegung. Zusammen mit Quarck-Hammerschlag, Martha Wertheimer und Rosa Kempf kämpft sie für das Frauenwahlrecht. In der Ortsgruppe Frankfurt des »Deutschen Reichsverbands für das Frauenstimmrecht« ist sie Schriftführerin.

Insbesondere Kraus entfaltet nun über die Erkenntnisse aus der gemeinsamen praktischen Arbeit eine breite Publizistik. Er publiziert in den Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung und den Beiträgen zur Theorie und Politik der Fürsorge, liefert Beiträge für die Schriftenreihen des »Vereins für Socialpolitik« und der österreichischen »Gesellschaft für Soziale Reform« und legt im Auftrag des Verbands Bayerischer Metallindustrieller die mehrfach wiederaufgelegte Broschüre »Die Kriegsinvaliden und der Staat« (1915) vor. Aber auch Meta arbeitet weiterhin wissenschaftlich und publizistisch. So beschäftigt sie sich im Auftrag des »Archivs deutscher Berufsvormünder« mit den »Leistungen der öffentlichen Armenpflege für Kinder und Jugendliche im Königreich Bayern« im Zeitraum zwischen 1881 und 1909 – eine Arbeit, die 1916 in der Zeitschrift für Armenwesen erscheint.

Als ihr Mann in Österreich zum Kriegsdienst eingezogen wird, übernimmt Meta im März 1917 von ihrem Mann die Leitung des »Städtischen Fürsorgeamts für Kriegshinterbliebene« und bleibt in dieser Position bis Kriegsende. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg wird Kraus die Leitung des Fürsorgeamtes wieder übernehmen und noch bis 1926 innehaben. Über ihre gemeinsame Arbeit verfassen die Eheleute die 1919 publizierte Schrift »Die Organisation und die Tätigkeit des Städtischen Fürsorgeamtes für Kriegshinterbliebene in Frankfurt am Main«.

Ungeachtet dieser Arbeitsgemeinschaft ist die Ehe jedoch längst zerrüttet. Am 24. Februar 1917, noch bevor Siegfried eingezogen wird, wird die Ehe nach sechseinhalb Jahren vor dem Frankfurter Königlichen Landgericht rechtskräftig geschieden. Meta ist zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt. Sie wird nie wieder heiraten und auch kinderlos bleiben. Ihren Doppelnamen legt Meta jedoch nicht ab.

Revolutionäre Erschütterungen

Anfang November 1918 streiken die Matrosen in Kiel und Wilhelmshaven. Es ist der Auftakt zur Revolution. Am 9. November dankt der Kaiser ab und flieht mit seiner Familie und größeren Reichtümern nach Holland. Die SPD, der Meta angehört, verrät die Revolution. Schon am 10. November schließt der sozialdemokratische Reichskanzler Friedrich Ebert einen Pakt mit der Militärführung zu ihrer Niederschlagung.

Meta erlebt die Revolution noch in Frankfurt. Am 17. November 1918 spricht die 34jährige auf einer »Großen Volksversammlung in der Paulskirche« zum Thema »Die Frauen und die politische Lage«, neben Henriette Fürth und Max Quarck. Gemeinsam mit Quarck-Hammerschlag, Sophie Ennenbach und Berta Sachs wird Meta im Geiste eines proletarischen Feminismus aktiv. Die soziale Frauenfrage stellt sich nach Kriegsende verschärft. »Besonders hart traf die Demobilmachung die Frauen. Zugunsten der Kriegsheimkehrer [werden] massenweise Frauen entlassen. Sie andernorts unterzubringen, gestaltet sich außerordentlich schwierig. Besonders die ungelernten in der Rüstungsindustrie tätig gewesenen, dort gut bezahlten Frauen und Mädchen (stehen) vor einem Nichts (…) Gegen diese unerträgliche Situation (regt) sich der Widerstand der Koalition aus dem Verband der Frankfurter Frauenvereine mit der Frauengruppe der sozialdemokratischen Partei. (…) Ziel (ist) es, die Arbeitsfreiheit der Frau zu sichern und ihrer wirtschaftlichen Not (entgegen) zu steuern (…)«.¹

Meta engagiert sich in diesen Kämpfen stark. Die ökonomische Unabhängigkeit und auch die sexuelle Freiheit/Befreiung der Frau wird für sie zu einer Lebensaufgabe. Sie bleibt jedoch nicht mehr lange in Frankfurt. Es zieht sie ins Zentrum der Revolution, nach Berlin. Dort wirft sie sich in die Revolution, engagiert sich auch als Sozialarbeiterin, die Proletarierfamilien in den Berliner Arbeiterbezirken Moabit, Wedding und Prenzlauer Berg unterstützt.

Die Revolution verändert Metas Leben auch berufsbiographisch. Eine neue Berufung wartet auf sie, ein Karrieresprung. Zum 1. Oktober 1919 wird sie im Alter von 35 Jahren als erste Frau Beamtin im preußischen »Ministerium für Volkswohlfahrt«. Fortan arbeitet sie im Ministerium in der Leipziger Straße 3, dem heutigen Bundesratsgebäude. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen nimmt sie am 13. Oktober in der Hauptstadt an einer Fachausschusssitzung des »Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge« teil. Ebenfalls dabei sind alte Freunde und Weggefährten aus Frankfurt: Klumker, Quarck-Hammerschlag und Hans Maier.

Spätestens 1921 wird Meta dann zur Regierungsrätin ernannt. In der Abteilung III des Ministeriums (»Jugendwohlfahrt und allgemeine Fürsorge«) leitet sie, die Kinderlose, fortan die Unterabteilung für »Kleinkinderfürsorge und für die Fürsorge für die sittlich gefährdete weibliche Jugend«. Die Abteilung untersteht dem Ministerialdirektor und Zentrumspartei-Politiker Franz Bracht, der später das Amt des preußischen und dann des Reichsinnenministers ausüben wird.

Meta steht in der Weimarer Republik eine große Karriere bevor. Preußen bleibt bis zum »Preußenschlag« 1932 sozialdemokratisch regiert. Und doch führt der Verrat der SPD an der Revolution zum Bruch. Sie will den Sozialismus, will die Revolution, die die Eigentumsverhältnisse radikal ändert, die sie als Ursache des Elends der proletarischen Frauen und Kinder erkennt, das ihr in der Arbeit täglich begegnet. Schon 1919, kurz nach dem »Spartakusaufstand« und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar tritt sie, genauso wie ihre alte Freundin Heti, in die zum 1. Januar gegründete Kommunistische Partei (KPD) ein. Sie ist insgeheim längst revolutionäre Sozialistin, als sie ihre Stelle im Preußischen Wohlfahrtsministerium antritt. Mehr noch: Obwohl Regierungsrätin und damit Staatsvertreterin, beginnt sie, sich aktiv am Aufbau der revolutionären Partei zu beteiligen und auch öffentlich für sie einzustehen. Ihre Arbeit im Ministerium nutzt sie, um den Kindern der »viele(n) revolutionäre(n) Arbeiterinnen« und Arbeiter, die beim »Spartakusaufstand« und dem Generalstreik vom März 1919 »getötet oder inhaftiert worden« sind, den Frauen und Kindern, die »zu Witwen und Waisen« wurden, beizustehen.

Ihre Fürsorgetätigkeit über die staatliche Bürokratie flankiert sie nun durch die proletarische Direkthilfe. Sie wagt den Spagat zwischen sozialdemokratischer Regierungsarbeit und revolutionärem Straßenkampf. 1921 beteiligt sie sich maßgeblich an der Gründung und dem Aufbau der »Internationalen Arbeiterhilfe« (IAH). Für die IAH steht sie, obwohl Regierungsbeamte, auch öffentlich ein. Immer wieder ist sie Rednerin der IAH, und 1922 erscheint ihre Schrift »Bürgerliche und proletarische Wohlfahrtsorganisationen: zum sozialpolitischen Kurs der IAH«.

Meta agiert im und gegen den Staat zugleich. Ihre berufliche Tätigkeit orientiert auf die Nutzung der staatlichen Institutionen im Dienste des Proletariats. »Fürsorgewesen und Arbeiterklasse« heißt ein 1923 publizierter Text, den sie in den Sozialistischen Monatsheften veröffentlicht und der die Parameter ihrer Arbeit im Staat umreißt. 1922 erscheint aus ihrer alltäglichen behördlichen Arbeit die Schrift »Die sozialpädagogischen Aufgaben in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« in der Zeitschrift Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt. Darin spricht sie sich für die »Einrichtung von Pflegeämtern, Fürsorgestellen oder Schutzheimen« aus, die »infolge der Aufhebung der polizeilichen Reglementierung der Prostitution notwendig« geworden sei. Als Ziel verfolgt sie den Ausbau von öffentlichen Institutionen jenseits der Kontrolle kirchlicher Apparate und »im Gegensatz zu konfessionellen Angebotsträgern«. Die »neuen Institutionen« sollten dem Prinzip einer »Pädagogisierung der Wohlfahrtspflege« folgen, mit einer »erziehliche(n) Beeinflussung durch verständnisvolle Menschen«. Metas Ziel ist die Humanisierung der Sozialarbeit, jenseits der Logiken staatlicher Unterdrückungsapparate und christlicher Bevormundung.

Bruch mit dem Staat(sdienst)

Das Changieren zwischen institutionellem Kampf auf dem Terrain des Staates und den revolutionären Zielen aber scheint nur bedingt zu funktionieren. Die Auseinandersetzungen zwischen KPD und Sozialdemokratie intensivieren sich. Vor allem die IAH, die die internationale Hilfe für die Sowjetunion koordiniert, gerät von seiten der SPD mehr und mehr unter Beschuss. Am 17. Juni 1924 wendet sich Meta in einem »offenen Brief an alle in der IAH tätigen SPD-Genossen«, und sie macht es sich zur Aufgabe, um Verständnis für die Arbeit der IAH zu werben. Sie reist durchs Land und spricht beispielsweise im August in Rabenau »über Zweck und Ziel der Internationalen Arbeiterhilfe«.

In etwa zur selben Zeit begibt sich Meta Kraus-Fessel plötzlich in den einstweiligen Ruhestand. Über die Gründe ihres Ausscheidens aus dem Ministerium kann vorerst nur spekuliert werden. Ist sie desillusioniert? Wurde sie herausgedrängt?

Die Arbeit in der IAH setzt Meta nun federführend fort. Am 16. März 1925 ist sie wieder Rednerin auf dem Reichskongress, der in Berlin stattfindet. Auszüge aus ihrem Referat »Die Arbeiterhilfe im Kampf gegen den Hunger in Deutschland« erscheinen später in einer Broschüre, die auch Auszüge aus den Referaten des Statistikers Robert René Kuczynski (1876–1947), von Mathilde Wurm (1874–1935) und Willi Münzenberg (1889–1940) enthält.

Vielleicht hat es mit ihrer ostpreußisch-junkerlichen Herkunft zu tun, dies es ihr verunmöglicht Berlin mit ganz Deutschland zu verwechseln: Aber die Gefahr des Faschismus erkennt Meta viel früher als andere, noch zu einer Zeit, als die NSDAP eine kleine Splitterpartei ist. 1924, die NSDAP ist infolge des gescheiterten Hitler-Putsches vom 9. November 1923 verboten, arbeitet sie neben Gertrud Alexander und Emil Julius Gumbel an Rudolf Schlichters von der »Antifaschistischen Weltliga« herausgegebenen Zeitschrift Chronik des Faschismus (Rote Revue) mit, die als Satirebeilage von Hammer und Sichel erschien. Sie ist neben unter anderem Karl Kraus und Else Lasker-Schüler auch Mitunterzeichnerin eines Appells zugunsten revolutionärer Arbeiter, die vom Leipziger Staatsgerichtshof zum Tode verurteilt worden sind. Für die »Justizopfer« wird eine Amnestie gefordert: »Unüberblickbar« sei »die Zahl der Zuchthausurteile, die im Laufe der letzten Jahre die deutsche Justiz wegen politischer Verbrechen gefällt hat. Wenn die Angeklagten Ludendorff, Hitler, von Killinger hießen und wegen Hochverrats angeklagt« waren, seien »sie freigesprochen oder zu lächerlich niedrigen Festungsstrafen mit Bewährungsfrist ›verurteilt‹« worden. »Heißen sie jedoch Mayer, Margies oder Schulz, standen sie links und waren sie unvorsichtig genug, den Faschisten auf eigene Faust inmitten des Chaos 1923 gegenüberzutreten, dann traf sie ein drakonisches Urteil.«

Kinderheim Barkenhoff

Ebenfalls Mitunterzeichner sind zwei Personen, mit denen Meta in den nächsten Jahren eng zusammenarbeitet: Der Künstler Heinrich Vogeler von der kommunistischen Künstlerkolonie Worpswede und der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld.

Schon im Mai 1925 steht sie Martha Vogeler, der Frau des Malers bei und beherbergt sie, als der sie bedrängt, »jetzt möglichst reibungslos auf die Ehescheidung einzugehen«, da »wir beide besitzlos sind«, weshalb es doch »in beider Interesse« sei, »diese Formsache auf schlichteste Weise zu erledigen«. Zu ihrem Feminismusverständnis gehört sowohl diese Frauensolidarität als auch die Kritik an scheinfeministischen Reformen, wie den Einsatz von »Frauen im Polizeidienst«. 1927 schreibt sie hiergegen in der Neuen Generation an. Ein neues Polizeigesetz hatte die Kontrolle von Geschlechtskrankheiten unter Prostituierten den männlichen Beamten entzogen und Sozialarbeiterinnen mit Polizeibefugnissen übertragen, die die Mädchen durch Überredung, Sozialunterstützung oder auch Inhaftierung aus den Bordellen bringen sollten. Vielleicht hätte Meta vor wenigen Jahren Elemente dieser Reformpolitik noch selbst gestaltet. Jetzt aber zeigt sie sich davon überzeugt, dass diese Praxis letztlich reaktionär ist. Sie halte lediglich die Doppelmoral, die mit den alten Prostitutionsgesetzen geschaffen wurde, aufrecht. Kaum anders schildert sie es in »Die bürgerliche Wohlfahrt im kapitalistischen Klassenstaat«, ein Text, der 1928 in Proletarische Sozialpolitik: Organ der Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen erscheint.

Besonders engagiert sich Meta im Barkenhoff von Heinrich Vogeler. Der war nach der Zerschlagung der Bremer Räterepublik 1919 zunächst ins Sauerland geflohen und hatte dann in Worpswede im Nordosten von Bremen eine anarchokommunistische Siedlungskommune mit einer angegliederten Arbeitsschule gegründet. Sein 14 Morgen großer Barkenhoff geht in den kommunistischen Gemeinbesitz von Erwerbslosen über. Es herrscht ein stark libertärer, utopischer Geist, der viele anzieht. 1923 reist Vogeler mit seiner späteren zweiten Ehefrau Sonja Marchlewska, Tochter des polnischen Arbeiterbewegungsführers und Lenin-Mitarbeiters Julian Marchlewski, in die Sowjetunion. Anschließend tritt er (wieder) der KPD bei und verwandelt den Barkenhoff in ein Kinderheim der Roten Hilfe, die 1924 auch die Trägerschaft übernimmt.

Der Barkenhoff wird zum Labor des lebendigen Kommunismus, zum Zentrum einer proletarischen Pädagogik und zum Mittelpunkt der Künstlerkolonie Worpswede. Ab 1925 entstehen in der Diele des Barkenhoffs Fresken mit Szenen aus Revolution und utopischen Darstellungen der kommunistischen Zukunft und »Geburt eines Neuen Menschen«, die Vogeler aus einer »Verwurzelung im Jugendstil« und mit »einer universalistischen, holistischen Weltsicht« schafft. Über die 1926 beendeten Fresken kommt es noch im selben Jahr zum Konflikt mit dem Regierungspräsidenten und Landrat, der das Kinderheim nun wegen »Jugendvergiftung« schließen will. Als sich im Januar 1927 sogar der Preußische Landtag mit dem Barkenhoff beschäftigt und der Landrat die teilweise Vernichtung der Fresken anordnet, alarmiert die Rote Hilfe die Öffentlichkeit. Es entsteht eine große, von Intellektuellen und Künstlern, Pastoren, Juristen und Bauräten der ganzen Republik getragene Protestbewegung. Die von Meta und dem Kuratorium der Roten Hilfe informierte Käthe Kollwitz formuliert ihren »schärfsten Widerspruch«. Es sei »unmöglich, dass Kunstwerke der Vernichtung ausgeliefert sein dürfen, weil die ihnen zugrunde liegende Idee der zustehenden Behörde nicht genehm« sei. Auch Thomas Mann schlägt in diese Kerbe: Die Wandgemälde »versinnlichen mit großer Inbrunst (…) einen Mythus, dem man aus eigenen Glauben nicht anzuhängen« brauche, »um ihm das Recht auf seinen Platz im heutigen Geistes- und Glaubensleben anzuerkennen, den Mythus von der Erlösung der Welt, ›der unterdrückten Klassen und Völker‹ durch die proletarische Revolution.«

Zur Untermauerung publiziert Meta nun im Auftrag des Kuratoriums die Broschüre »Polizei-Terror gegen Kind und Kunst«. Darin schildert sie die sozialfürsorgerische Leistung des Barkenhoffs detailliert anhand der Verbesserung des körperlichen Zustands, der Hygiene usw. der beherbergten Kinder. Sie erinnert an den Anspruch der Weimarer Republik, den sie als formelle »Errungenschaften für die Kinder der sozialen Republik« bezeichnet, und kontrastiert ihn mit der Wirklichkeit der Verelendung der proletarischen Kinder und dem Vorgehen der Behörden gegen die Rote Hilfe. Die »reaktionären Behörden« würden »nicht nur gegen die Arbeiter (kämpfen), sondern auch gegen deren Kinder. Mitleidslos lassen sie die proletarischen Kinder, nachdem sie durch die gegnerische Klassenjustiz ihrer Väter beraubt worden sind, als schutzlose Waisen zugrunde gehen. Zielbewusst verhindern sie selbst jene Hilfe, die den Kindern durch ihre Klassengenossen gebracht wird«

Der breite Protest nutzt jedoch nichts. Die Fresken müssen mit Wachstuchrollos verhängt werden. 1930 verlässt Vogeler den Barkenhoff, übersiedelt ein Jahr später in die Sowjetunion, 1932 wird das Kinderheim geschlossen und verkauft, 1933 wird Metas Schrift von den Nazis verboten und die Rote Hilfe zerschlagen. 1939 erfolgt die endgültige Zerstörung der Fresken.

Anmerkung

1 Hanna und Dieter Eckhardt: Ich bin radical bis auf die Knochen. Meta Quarck-Hammerschlag. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2016, S. 169

Teil 2 erscheint am 13. August.

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 27. Juli über Trumps »Running mate« J. D. Vance.

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