Ist das Huhn?
Von Gisela SonnenburgMan stelle sich eine junge Dame in Frankreich vor, hundert Jahre nach der Revolution. Das Fräulein ist auf sich gestellt, geht einem anrüchigen Beruf nach – und wird auch noch »Boule de Suif«, also »Fettklößchen«, genannt. So heißt die Novelle von Guy de Maupassant, die sich der sowjetische Regisseur Michail Romm 1934 zur Vorlage eines berückend stilsicheren Stummfilms nahm. Am Dienstag abend gab es zu diesem Film erstmals die musikalische Livebegleitung durch zwei Meister des Jazz: Der Pianist und Komponist Hannes Zerbe holte »Fettklößchen« in die Veranstaltungsreihe »jW geht Jazz« in die Maigalerie der jungen Welt in Berlin. Zusammen mit Jürgen Kupke an der Klarinette entfachte Zerbe das Feuerwerk eines melodischen, pointenreichen Soundtracks.
Zur Einstimmung gab es eine Ouvertüre, die mit chansonhafter Stimmung sanft in Richtung Frankreich lenkte. Der Film zeigt eine Wagenkutsche: erst von außen, dann von innen. Neun Patrioten, so verheißen es die auf russisch und englisch zu lesenden Untertitel, füllen das Gefährt. Sie sind auf dem Weg von Rouen nach Le Havre. Die Herren tragen Bart, die Damen Schleifen oder Hüte. Zwei Nonnen wirken übernächtigt. Und ein Geschäftsmann hat Angst, nicht rechtzeitig in Le Havre anzukommen.
Die Triolen der Klarinette machen ihm Mut. Aber das Klavierspiel warnt: Es könnte etwas geschehen. Kesse Kapriolen lässt sich die Klarinette dennoch nicht nehmen: Boule de Suif steigt zu. Mollig und adrett wirkt sie, ausgeschlafen und gut gelaunt. Die Schminke in ihrem Gesicht verrät, womit sie ihr Geld verdient: Sie ist eine käufliche Liebesdienerin. Abweisende Blicke begegnen ihr darum.
Aber sie hat Proviant dabei. Fettglänzende Geflügelteile zeigt die Kamera, dazu die gierigen Blicke der anderen Reisenden. Elizabeth, wie Boule de Suif mit bürgerlichem Vornamen heißt, zeigt sich großzügig. Sie teilt mit den anderen, und zu zehnt haben sie ihre Vorräte rasch aufgebraucht. Sogar die Nonnen, die sich starrend für Elizabeths Brot bewarben, kauen dankbar das Angereichte.
Die Kamera grast die Essenden ab. »Ist das Huhn?« fragt einer. Die Klarinette imitiert ein Gackern. Elizabeth jongliert zu einem Triller gekonnt mit ihrem Zahnstocher. Es ist erstaunlich, wie wenig hier passiert – und doch ändern sich die Stimmungen und auch die Beziehungen der Menschen. Als die Kutsche das Gasthaus für die Übernachtung erreicht, spielt nur das Piano. Ein strenger preußischer Offizier steht vor der Tür. Drinnen verlangt er von Elizabeth ihre Papiere. Sie angelt ein Dokument aus ihrem Strumpfband: Sie würde »mit offizieller Erlaubnis der Polizei« eigene Gewinne machen. Der Preuße weiß Bescheid. Und es macht ihn heiß, dass diese Frau käuflich ist. Aber Boule de Suif sagt zu ihm nein. Für einen preußischen Besatzer ist sie nicht zu haben.
Das wird ihr Verhängnis. Denn am nächsten Tag verweigert der Preuße den Franzosen die Weiterfahrt. Die Geschäftsleute befürchten Verluste. Doch der Offizier pafft wortlos Zigarrenwolken in die Luft. Das Bild zeigt seine Reitstiefel: in Großaufnahme und von unten. Man kann diese Einstellung von 1934 als Hinweis auf die SS deuten.
Als der Wirt an den folgenden Abenden Elizabeth fragt, ob sie ihre Meinung geändert habe, erfolgt stets eine Tirade à la »nein, niemals, im Leben nicht!« aus ihrem hübschen, zornigen Gesicht. Die Klarinette hat viel zu tun. Die Magd, bei der ein anderer Preuße sein Glück versucht, zeigt ihm ebenfalls die kalte Schulter. Die Musik aber verströmt ruhig und getragen die Wartezeit, bis abends das Kartenspiel und Händeklopfen begonnen werden.
»Dieser Patriotismus wird zu teuer«, befindet jemand, der tausend Pfund verlieren könnte, wenn er nicht bald in Le Havre ist. Die Stimmung gegenüber Elizabeth wird feindselig. Am Piano brodelt es. Schließlich reden alle auf das Mädchen ein, damit es seine Grundsätze außer acht lässt. Die Nonnen versuchen es zuletzt, bedrängen und nötigen die pummelige Schönheit. Schließlich geht Boule de Suif ins Zimmer des Offiziers, der sogleich beginnt, sich auszuziehen. Die anderen feiern die Hoffnung auf Weiterfahrt.
Am vierten Tag steht die kleine Gesellschaft abreisefertig vor der Kutsche. Boule de Suif erscheint. Doch niemand grüßt sie, im Gegenteil: Sie wird geächtet. Verstört steigt sie ein. Sie hatte keine Zeit, sich Proviant zu beschaffen. Und die anderen geben ihr nichts ab. Nur der Preuße, der auch einstieg, steckt ihr etwas zu: Unter Tränen nimmt Boule de Suif es an. Die Hartherzigkeit und Undankbarkeit der oberen Schichten gegenüber der kleinen Heldin werden offenbar. Ein wahrhaftiger Abend.
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