Aus Leserbriefen an die Redaktion
Politikversagen
Zu jW vom 29.7.: »Still ruht der Bau«
Die gegenwärtige Wohnungsnot in den Ballungsräumen ist Folge massiven Politikversagens. So gab es vor 40 Jahren etwa vier Millionen Sozialwohnungen. Ende 2022 waren es lediglich noch rund 1,09 Millionen. Falsch war und ist die einseitige Förderung des Baus von Einfamilienhäusern. Ende 2021 gab es in Deutschland insgesamt 19 Millionen Wohnhäuser, 16 Millionen davon sind Einfamilienhäuser. Statistisch leben in jedem Einfamilienhaus 1,8 Menschen. Zudem benötigen Einfamilienhäuser sehr viel Bauland pro Person. Für Bau, Erschließung und Unterhaltung ist der Ressourcenbedarf pro Person besonders hoch. Ganz abgesehen von den Flächenversiegelungen angesichts des Klimawandels. Oft ist der Arbeitsplatz nur mit dem Auto erreichbar. Für die Finanz-, Immobilien- und Bauwirtschaft, letztlich auch für die Auto- und Mineralölindustrie, ist der Bau von Einfamilienhäusern jedoch ein gutes Geschäft. Nicht zuletzt trug auch der massenhafte Verkauf kommunaler Wohnungen an private Investoren zum Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Ballungsräumen bei. Wenn nun Herr Scholz jüngst vorschlug, am Rand der großen Städte 20 neue Stadtteile zu bauen, und jetzt Frau Geywitz den Wohnungssuchenden das Landleben empfiehlt, ist das Populismus. Denn das hochkomplexe Wohnungsproblem ist nur im Zusammenwirken der unterschiedlichsten Akteure lösbar: Immobilienbesitzer, Grundeigentümer, Stadtplaner, Architekten, Bauwirtschaft, Banken, Stadtverwaltungen … Besonders gefragt ist dabei die Politik. Sie muss die Rahmenbedingungen schaffen: Bau- und Mietrecht, Steuer- und Förderprogramme, Denkmalschutzbestimmungen … Die Vorschläge von Herrn Scholz und Frau Geywitz können nicht über das Versagen der Wohnungspolitik hinwegtäuschen.
Christian Helms, Dresden
»Klimachaot« Volker Wissing
Zu jW vom: 26.7. : »Härterer Umgang mit ›Störern‹ gefordert«
Boris Rhein (CDU) redet, wie er es versteht. Wer genau sind nun wirklich die »unverantwortlichen«, »kriminellen« »Klimachaoten«, denen es darum geht, »möglichst großen Schaden anzurichten«? Angesichts der machtvoll einsetzenden Klimakatastrophe und der drohenden Kippunkte, die sie irreversibel machen dürften, sehe ich die totale Verantwortungslosigkeit vor allem 1. bei Fluggesellschaften, 2. bei Fluggästen, 3. in Raffineriebetrieben, 4. bei Verkehrsministern, die eine Einstellung der europäischen Binnenflüge nicht zustande bekommen, 5. bei Verkehrsministern, die eine Kerosinsteuer in prohibitiver Höhe nicht zustande bekommen, 6. bei Verkehrsministern, die eine Wiederherstellung von Kostenwahrheit zwischen Flug- und Bahnpreisen nicht zustande bekommen, wie es sie noch 1973 gab (Flug Stuttgart – Oxford um 100 D-Mark teurer als Bahnreise samt Liegewagenzuschlag!), 7. bei Verkehrsministern, die nicht mal ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen schaffen, 8. bei Verkehrsministern, die die Klimaschutzziele im eigenen Ressort inzwischen formal »korrekt« reißen dürfen, was keineswegs heißt, dass sie das auch mit aller Gewalt tun müssen. Der unverantwortlichste, den größten Schaden anrichtende »Klimachaot« (vgl. Punkte 4. bis 8.) hat also einen Namen: Volker Wissing (FDP).
Bernhard May, Solingen
Verschwommene Begriffe
Zu jW vom 25.7.: »Klagen gegen Ausbeutung«
»Klagen gegen Ausbeutung« – diese Überschrift ist genauso falsch, wie sie richtig scheint. Richtig, weil sich Leute wehren, dass sie um ihnen zustehendes Arbeitsentgelt betrogen werden. Und falsch, weil Ausbeutung nicht diese Art von Betrug beschreibt, sondern die unbezahlte Aneignung von Mehrarbeit durch den Kapitalisten, die er dank seines Eigentums an den Produktionsmitteln völlig rechtskonform vornehmen darf. Gegen die es also auch keinerlei juristische Gegenwehr gibt, weil die Justiz im Auftrage der Eigentümer dazu berufen ist, genau diese für absolut normal erklärten Verhältnisse zu schützen, indem sie das Eigentum und seine Rechte für absolut sakrosankt erklärt. Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Begrifflichkeiten verwässert werden. Bedient man sich der verschwommenen Begriffe seiner geistigen Gegner, landet man nämlich außerordentlich schnell auch bei deren Denkweise. Dann mutiert schnell auch ein antagonistischer Gegensatz zu etwas, dessen Lösung bei der Gerichtsbarkeit der Herrschenden besser aufgehoben wäre als bei der machtvollen Gegenwehr der Ausgebeuteten.
Joachim Seider, Berlin
Ablenkung
Zu jW vom 1.8.: »Israel tötet Hamas-Chef«
Hamas und Hisbollah im Ablenkungskrieg für die feudal-religiösen Fürsten und Oligarchen. Wie stets, die ökonomische Herrschaft bleibt außen vor! Die arabischen Völker müssten sich auf ihre heimischen Oligarchen konzentrieren. Sie dürften sich nicht mehr von den sozioökonomischen Ursachen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Armut von den jeweils herrschenden Stammesführungen und deren Eliten ablenken lassen. Sie müssten auch begreifen, dass ihren Oligarchen, Monarchisten, Prinzen und Eliten der Hass und die Hetze gegen Israel und Menschen jüdischen Glaubens vor allem der Ablenkung von den in ihren Ländern und Regionen vorherrschenden Eigentums- und Besitzverhältnissen dient. Dass selbst bei einer Vernichtung der staatlichen Existenz Israels ihre Armut und soziale Deklassierung nicht beseitigt wäre. Ihre Fürsten und Herrscher würden sich neue Opfer für die Ablenkung der Volksmassen von der regierenden Ungleichheit aussuchen, andere regionale und nationale Minderheiten, Religionen und sexuelle Orientierungen. So vor allem auch in Ermangelung eines Gegners wie einst die nationalen und sozialen sozialistischen Befreiungsbewegungen, die es heute nicht mehr gibt.
PS: Katar gibt 240 Milliarden US-Dollar für die Fußball-WM, aber nicht für die Beendigung der sozialen Bildungsarmut in der arabisch-afrikanischen Welt.
Reinhold Schramm, Berlin
Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Begrifflichkeiten verwässert werden. Bedient man sich der verschwommenen Begriffe seiner geistigen Gegner, landet man außerordentlich schnell auch bei deren Denkweise.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!