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Aus: Ausgabe vom 09.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Tag der Indigenen

Massaker für Soja

Brasilien: Landkonflikte zwischen Indigenen und Großbauern. Koloniale Kontinuitäten und Missachtung indigener Rechte
Von Volker Hermsdorf
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Indigenes Festival in Brasilien: Hier treffen sich Angehörige der Pataxo (Porto Seguro, 1.8.2023)

Sie kamen in der Nacht zum Sonntag mit schweren Pick-up-Trucks, steckten Zelte und Hütten in Brand, verwüsteten heilige Kultstätten und feuerten wahllos auf Menschen. »Es ist wie ein Krieg«, beschreibt ein Anführer des indigenen Volkes der Guarani-Kaiowá in der Onlinezeitung Brasil de Fato das Erlebte. »Und sie werden immer wieder kommen«, weiß er aus jahrelanger Erfahrung. Denn der jüngste Angriff auf Angehörige der Guarani-Kaiowá im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul ist nur ein Beispiel für die Verletzung der Rechte von indigenen Menschen, deren Zahl weltweit auf mehr als 476 Millionen geschätzt wird. Seit 1994 wird der 9. August deshalb auf Beschluss der UN-Generalversammlung als Internationaler Tag der indigenen Bevölkerungen der Welt begangen.

Wie in Brasilien sind Landkonflikte zwischen Indigenen, die sich der Kolonisierung und Zerstörung ihrer angestammten Gebiete widersetzen, und den Profitinteressen mächtiger Eindringlinge fast überall in Lateinamerika an der Tagesordnung. Im Süden Chiles kämpfen die Mapuche für ihre Ländereien, die von ausländischen Konzernen und der Regierung für Landwirtschaft, Energiegewinnung und Tourismus okkupiert werden. In der nordargentinischen Provinz Jujuy änderten rechte Politiker im vergangenen Jahr die Kommunalverfassung, um die Vertreibung indigener Anwohner von ihren Territorien zu erleichtern und stellten Proteste dagegen unter Strafe. Zu den Profiteuren gehörte unter anderem der US-Gigant Livent, einer der größten Lithiumkonzerne der Welt. Im ecuadorianischen Amazonasgebiet, nahe der Grenze zu Kolumbien, wehren sich Gemeinschaften seit Jahren gegen Minenkonzessionen zum Abbau von Gold, die auf ihrem Land vom Bergbauministerium vergeben wurden. Indigene Völker müssen nicht nur für die Besitzrechte an dem Land kämpfen, auf dem sie seit Jahrhunderten leben, sondern auch um einen besseren Zugang zu Nahrung, Wasser, Bildung und gesundheitlicher Versorgung. Obwohl die Indígenas in einigen Ländern den größten Bevölkerungsanteil stellen, wurde in Lateinamerika erst am 22. Januar 2006 – über 500 Jahre nach der Landung europäischer Eroberer – mit Evo Morales Ayma in Bolivien zum ersten Mal ein Präsident gewählt, der dem indigenen Volk der Aymara angehört. Doch im November 2019 wurde der ehemalige Kokabauer, Landarbeiter und Gewerkschafter, der das Andenland zum »plurinationalen Staat« erklärt hatte, in einem blutigen Putsch von Angehörigen der weißen Oberschicht gestürzt. In Peru, wo die Mehrheit der Bevölkerung ebenfalls indigene Wurzeln hat, wurde der störende linke Dorfschullehrer Pedro Castillo 2022 nach nur 17 Monaten ebenfalls Opfer eines Staatsstreiches.

Auch in Brasilien standen sich am Wochenende auf der einen Seite Indigene, die das Gebiet verteidigen, in dem ihre Vorfahren und sie seit Generationen beheimatet sind, und auf der anderen Seite bewaffnete weiße Grundbesitzer gegenüber, die auf dem Land Soja und Zuckerrohr anbauen oder Rinder züchten wollen. Dafür sollen der Regenwald und die indigene Bevölkerung weichen. Die Angreifer führten Waffen mit scharfer Munition und Gummigeschossen mit sich. Mehrere Personen wurden mit Kopf- und Halsschüssen schwer verletzt. »Sie schießen, um zu töten und drohen mit einem Massaker«, warnt Aty Guasu, eine Organisation der Guarani-Kaiowá. Da die brasilianische Landwirtschaft immer weiter in Richtung Amazonas vordringt, um Soja für den Export anzubauen oder Rinder für die Fleischproduktion zu züchten, haben sich die Streitigkeiten um Land vervielfacht. »Gewaltsame Landkonflikte sind mit der anhaltenden Debatte in einem konservativ dominierten Nationalkongress über die Einschränkung indigener Ansprüche auf angestammtes Land, die von Brasiliens mächtiger Agrarlobby lanciert wird, häufiger geworden«, berichtete Reuters nach den Vorfällen.

Denn während der faschistische Expräsident Jair Bolsonaro (2019–2022) fest an der Seite von Großgrundbesitzern und Agrobusiness stand, unterstützt sein sozialdemokratischer Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva die Indigenen im Kampf um ihr Land. Im vergangenen Jahr unterzeichnete er mehrere Dekrete zur formellen Anerkennung und Betitelung indigener Territorien. Doch obwohl ein gut 12.100 Hektar großes Gebiet längst von der dafür zuständigen Nationalen Stiftung für Indigene Völker (Funai) identifiziert und den Communities zugesprochen wurde, ist der als »Demarkierung« bezeichnete Prozess nicht vorangekommen. Die Folgen seien ein Vegetieren »in Hütten aus Plastikplanen, ohne angemessene Lebensbedingungen, und dabei weiter der Bedrohung und Verfolgung durch die Latifundisten ausgesetzt zu sein«, klagen Betroffene. Des Wartens müde, entschieden sich die Guarani-Kaiowá für die »Selbstdemarkation« und begannen mit der Rückeroberung ihres Gebiets. »Wir besetzen das, was uns zusteht, wir dringen nicht in das Eigentum anderer Leute ein. Wir wollen nur das, was uns gehört. Wir sind hier, um unser Gebiet zurückzufordern und erheben Anspruch auf 12.196 Hektar, die uns seit langem vorenthalten werden«, erklärte ihr Anführer am Dienstag – kurz vor dem Tag der indigenen Rechte – gegenüber Brasil de Fato.

HintergrundSchutz des Rechts auf freiwillige Isolation

Es gibt etwa 476 Millionen Angehörige indigener Völker in 90 Ländern. Diese Völker machen etwa sechs Prozent der Weltbevölkerung aus, gehören jedoch zu den am stärksten benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen und stellen mindestens 15 Prozent der ärmsten Menschen der Welt. Trotz ihrer kulturellen Unterschiede haben indigene Völker auf der ganzen Welt gemeinsame Probleme beim Schutz ihrer Rechte als eigenständige Völker.

Indigene Völker bemühen sich seit Jahrhunderten um die Anerkennung ihrer Identität, ihrer Lebensweise und der Rechte an ihren traditionellen Territorien und natürlichen Ressourcen. Und doch werden ihre Rechte ständig missachtet. Um das Bewusstsein für die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe zu schärfen, wird jedes Jahr am 9. August der Internationale Tag der indigenen Völker der Welt begangen, in Erinnerung an die erste Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen für indigene Bevölkerungsgruppen, die 1982 in Genf tagte.

Der Internationale Tag der indigenen Völker der Welt 2024 steht unter dem Motto »Schutz der Rechte indigener Völker in freiwilliger Isolation«.

Rund 200 Gruppen indigener Völker leben derzeit in freiwilliger Isolation. Sie bewohnen abgelegene, ressourcenreiche Wälder in Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Indien, Indonesien, Papua-Neuguinea, Peru und Venezuela. Sie haben sich dafür entschieden, abseits vom Rest der Welt zu leben. Ihre Mobilitätsmuster ermöglichen es ihnen, zu jagen und zu sammeln und so ihre Kulturen und Sprachen zu bewahren.

Diese Völker sind stark von ihrem ökologischen Umfeld abhängig. Jede Veränderung in ihrem natürlichen Lebensraum kann sowohl ihr individuelles Überleben als auch das ihrer gesamten Gruppe gefährden.

Trotz ihres Rechts auf Autonomie führt unter anderem die Entwicklung von Landwirtschaft, Bergbau, Tourismus und natürlichen Ressourcen in ihren Gebieten zur Abholzung großer Teile der Wälder der indigenen Völker, wodurch ihre Lebensweise gestört und die natürliche Umwelt, die sie seit Generationen geschützt haben, zerstört wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass sie durch den Kontakt mit der Außenwelt Krankheiten ausgesetzt sein können, die eine der größten Bedrohungen für ihr Überleben darstellen. Aufgrund ihrer Isolation vor nichteinheimischen Gesellschaften haben sie keine Immunabwehr gegen relativ häufige Krankheiten. Daher kann ein erzwungener Kontakt mit der Außenwelt verheerende Folgen haben und ganze Gesellschaften zerstören. (ae)

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