Systematische Misshandlungen
Von Gerrit HoekmanWillkommen in der Hölle« hat das israelische Informationszentrum für Menschenrechte B’Tselem seinen am Montag veröffentlichten Bericht überschrieben. Die NGO hat 55 Palästinenser interviewt, die in den vergangenen Monaten aus israelischer Haft entlassen wurden. Fast alle saßen ohne Anklage im Gefängnis. B’Tselem bestätigt, dass Israel Inhaftierte systematisch misshandelt und foltert. Es sei ein Bericht »nicht nur darüber, was in Israels Gefängnissen geschieht – es ist ein Bericht über Israel«, kommentierte Haaretz am Donnerstag.
Wer als Palästinenser in einem israelischen Gefängnis landet, und das sind dieser Tage Tausende, hat offenbar alle Rechte und jeden Anspruch auf Menschlichkeit verwirkt. Sexuelle Übergriffe und andere erniedrigende Gewalt, vorsätzliches Aushungern, Schlafentzug, unzureichende medizinische Versorgung, willkürliche Beschlagnahme persönlicher Gegenstände – die Liste der Menschenrechtsverstöße ist lang.
Ende Juli wurden neun Soldaten wegen des Verdachts unter Arrest gestellt, nacheinander einen männlichen Gefangenen vergewaltigt zu haben. Darauf wollten Siedler sie befreien. Nur mit Mühe konnten sie davon abgehalten werden. Auch Finanzminister Bezalel Smotrich und »Sicherheitsminister« Itamar Ben-Gvir solidarisierten sich mit den mutmaßlichen Vergewaltigern.
»Dies ist das Ergebnis der raschen Umwandlung von mehr als einem Dutzend israelischer Militär- und Zivilgefängnisse in Lager zur Misshandlung von Häftlingen seit dem von der Hamas angeführten Angriff auf Südisrael am 7. Oktober 2023«, stellt B’Tselem fest. Wiederholt berichtete auch jW über die Zustände im Gefangenenlager Sde Teiman. »Aber Sde Teiman ist nur die Spitze des Eisbergs«, so B’Tselem. »Die israelische Regierung hat unser kollektives Trauma der Schrecken des 7. Oktober zynisch ausgenutzt, um die rassistische, gewalttätige Agenda des Ministers für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir in die Tat umzusetzen.«
Kurz bevor die Hamas und ihre Verbündeten Südisrael angriffen, befanden sich rund 5.200 Palästinenser in Haft. 1.319 von ihnen waren sogenannte Verwaltungshäftlinge, sie saßen ohne Anklage, Gerichtsverfahren und anwaltlichen Beistand im Gefängnis. Anfang Juli 2024 waren es 9.623 Inhaftierte, darunter 4.781 Verwaltungsgefangene. Seit der israelischen Besetzung der Westbank, Ostjerusalems und Gazas 1967 haben geschätzte 800.000 Palästinenser einen israelischen Knast von innen gesehen. Die allermeisten hatten sich keiner Straftat schuldig gemacht, sondern wurden nur aus einem Grund festgenommen: weil sie Palästinenser sind.
»Aufrufe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Politikern zum Völkermord und zur Massenvertreibung von Palästinensern sind alltäglich geworden«, schreibt B’Tselem. Finanzminister Smotrich deutete zum Beispiel am Montag einen weiteren Abgrund an Unmenschlichkeit an, als er bedauerte, dass die Welt Israel, selbst wenn es »gerecht und moralisch sein mag«, nicht erlauben würde, die zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens so lange »verhungern und verdursten« zu lassen, »bis sie unsere Geiseln zurückgeben«.
In diesem Klima werde Grausamkeit gegen palästinensische Gefangene toleriert und sogar begrüßt, so B’Tselem. »Die Misshandlungen, die in den Aussagen von Dutzenden von Menschen, die in verschiedenen Haftanstalten festgehalten werden, immer wieder beschrieben werden, sind so systematisch, dass es keinen Grund gibt, an einer organisierten, erklärten Politik der israelischen Gefängnisbehörden zu zweifeln.«
Verantwortlich dafür ist Itamar Ben-Gvir, ein ultrarechter Ideologe wie Smotrich. Die Hasstiraden der beiden und die systematische Erniedrigung der Gefangenen hatten schon lange vor dem 7. Oktober begonnen. »Diese Regierung«, resümiert B’Tselem, »hat uns auf einen moralischen Tiefpunkt getrieben und erneut ihre völlige Missachtung menschlichen Lebens unter Beweis gestellt – der israelischen Geiseln in Gaza, der Israelis und Palästinenser, die den anhaltenden Krieg durchleben, und der Palästinenser, die in Folterlagern festgehalten werden.«
Der Bericht von B’Tselem:
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