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Aus: Ausgabe vom 09.08.2024, Seite 8 / Ansichten

Verzicht auf Lack

Staatsumbau in der Bundesrepublik
Von Arnold Schölzel
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Kann sich bisher auf seine westlichen Verbündeten verlassen: Der mutmaßliche Kriegsverbrecher Netanjahu auf dem Militärfriedhof Mount Herzl (Jerusalem, 4.8.2024)

Das deutsche Außenministerium hat sich per Brief an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag dafür eingesetzt, Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in Ruhe zu lassen. Ankläger Karim Khan hatte am 20. Mai Haftbefehle wegen schwerster Verbrechen für drei Hamas-Anführer sowie Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Gallant beantragt. Das Baerbock-Ministerium rügte noch am selben Tag, da sei der »unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung« der fünf Personen entstanden. Dabei hatte Khan unterschiedliche Antragsgründe genannt, im Fall der beiden Israelis an erster Stelle das Kriegsverbrechen »Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegführung«. Das kam in der deutschen Erklärung, in der Verbrechen der Hamas benannt wurden, nicht vor.

Die Anwendung doppelter Rechtsstandards und die Leugnung von Tatsachen sind das Markenzeichen deutscher Außenpolitik geworden, seitdem sich die vergrößerte Bundesrepublik auf Krieg eingestellt hat. Unter dem Etikett »regelbasiert« wechseln die Regeln je nach Kriegsziel, Völkerrecht wird gebogen, wie es gerade passt. Und internationales Recht passt seit dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 nie, weil die Bundesrepublik seit 25 Jahren stets in irgendeinen völkerrechtswidrigen Krieg verwickelt ist. Wenn daher, wie die Süddeutsche Zeitung am Donnerstag kommentiert, der Zivilbevölkerung in Gaza seit zehn Monaten Wasser, Nahrung und Medikamente vorenthalten werden, heiße das, ihr »die Lebensader abzuquetschen«. Das sei »nach dem humanitären Völkerrecht ein Großverbrechen«. Die angebliche Empörung des Außenamts über den faschistischen Finanzminister Israels Bezalel Smotrich, der das Aushungern der zwei Millionen Gazabewohner als »möglicherweise gerechtfertigt« bezeichnet hat, haben die Baerbock-Gehilfen kostenlos. Smotrich hat lediglich die Terrorpraxis seiner Regierung artikuliert. Die Hungerödeme selbst akzeptieren die deutschen Regelbasierten.

Juristische Doppelstandards machen Recht zu Unrecht. Die Entwertung von Recht als Teil des reaktionären Staatsumbaus auch im Inland voranzutreiben ist den Netanjahu-Rettern wichtig. Das drakonische Berliner Urteil zur »Metapher von Fluss und Meer« (Berliner Zeitung) gilt daher nur für Palästina-Solidarität, nicht für Verfechter von Groß-Israel. Und während der Berliner Kultursenator händeringend danach sucht, wie er mit einer »Antisemitismus«-Klausel Zensur ausüben kann, ist seine Kollegin für Justiz bereits weiter: Die frühere Vizepräsidentin des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Felor Badenberg, will staatliche Zuwendungen davon abhängig machen, ob der Empfänger im Bericht des Inlandsgeheimdienstes auftaucht. Das hat es in 75 Jahren Bundesrepublik noch nicht gegeben. Das KPD-Verbot von 1956 und der Radikalenerlass von 1972 waren vergleichsweise rechtsstaatliche Veranstaltungen. Lack scheint nicht mehr nötig.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (15. August 2024 um 09:52 Uhr)
    Und wieder wird mit dem politischen Propagandabegriff Rechtsstaat bzw. »rechtsstaatlich« hantiert: »Das KPD-Verbot von 1956 und der Radikalenerlass von 1972 waren vergleichsweise rechtsstaatliche Veranstaltungen«. Gehts noch zynischer? Die alten Genossen der KPD, die damals den Repressionen des Staates ausgesetzt waren, könnten Arnold Schölzel etwas erzählen. Nur ein Beispiel von vielen: Martha Hadinsky. 1936 wegen ihres aktiven Engagements in einer Gruppe junger Widerstandskämpfer verhaftet und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. An Tuberkulose erkrankt, wurde sie nach achtjähriger Haft vorzeitig aus dem Frauenzuchthaus Ziegenhain entlassen. Nach dem KPD-Verbot 1956 wurde sie wegen »kommunistischer Wühltätigkeit« ein zweites Mal in ein deutsches Gefängnis gesteckt. Diesmal »nur« ein Jahr und vier Monate. »(…) Damals entzogen die selbsternannten Rechtsnachfolger des faschistischen Dritten Reiches nicht wenigen fortschrittlich eingestellten Menschen in der BRD – vornehmlich Kommunisten – die materielle Lebensgrundlage. Ausdruck dieser Politik waren die unter Willy Brandt – dem Idol so mancher PDL-Politiker – verhängten Berufsverbote. Martha Hadinsky sah kein Land mehr. Am 3. Juni 1963 nahm sie sich das Leben«. (Aus: »Unter Hitler wie unter Adenauer ins Gefängnis geworfen« Rotfuchs März 2014) Interessantes noch zum Thema »Rechtsstaat«. In der Verfassung der DDR kam dieser schwammige, scheinbar klassenneutrale Begriff 40 Jahre lang nicht vor. Erst im Zuge der Konterrevolution tauchte er plötzlich in der Verfassungsänderung vom 17. Juni 1990 auf. Bis dahin kannte die Verfassung nur den wesentlich passenderen Begriff »sozialistische Gesetzlichkeit«.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. August 2024 um 13:09 Uhr)
    Ach, wie beruhigend es doch ist, dass Deutschland wieder einmal auf der Seite des Guten steht. Und wenn dabei ein bisschen am Völkerrecht herumgebogen werden muss, na und? Schließlich ist Flexibilität das neue Markenzeichen deutscher Außenpolitik! Das Baerbock-Ministerium hat eben den moralischen Kompass exklusiv gepachtet und weiß genau, wo die rote Linie verläuft – nämlich immer dort, wo es gerade opportun ist. Und während Berlin nun fieberhaft darüber nachdenkt, wie man am besten Antisemitismus zum universellen Zensurwerkzeug macht, lehnen wir uns entspannt zurück und bewundern die Eleganz, mit der Recht zu Unrecht wird. Wer braucht schon einen Rechtsstaat, wenn man Moral als Maßstab hat? Immerhin leben wir in Zeiten, in denen Lack keine Rolle mehr spielt. Hauptsache, wir strahlen vor moralischer Überlegenheit – auch wenn der Lack längst abgeblättert ist.

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