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Aus: Ausgabe vom 09.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Sektologie

Schlechte Luft

Eine Berliner Podiumsdiskussion fragte »Was waren die Antideutschen?«
Von Gerhard Hanloser
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Letzte Zuckung der radikalen BRD-Linken: Berechtigtes Bedenkentragen bei der »Nie wieder Deutschland«-Demo gegen die »Wiedervereinigung« (Frankfurt am Main, 12.5.1990)

Wollte man das nicht schon immer wissen? »Was waren die Antideutschen?« lautete der Titel einer Podiumsdiskussion am 2. August in der Berliner Humboldt-Universität. Der Unizirkel Platypus hatte den langjährigen Konkret-Mann Detlef zum Winkel und Bahamas-Enfant-terrible Justus Wertmüller eingeladen und ihnen zwei Jüngere zur Seite gestellt, die beide auf den Namen Jan hören, einer von der »Gesellschaft für kritische Bildung«, einer aus der eigenen Gruppe. Gut 250 meist junge Leute, offensichtlich viele Studenten, drängten sich in den stickigen Hörsaal. Von den Diskutanten wollte Platypus wissen, wie sie, die der antideutschen Linken angehören oder angehört haben, »auf diese Strömung zurückblicken«. Die Eingeladenen sollten »unter anderem darüber nachdenken, wie politische Wendepunkte innerhalb der letzten 20 Jahre den Begriff ›antideutsch‹ entwickelt und verändert haben und was das Erbe der Antideutschen in Deutschland und international ist«. Eine schöne Aufgabe.

Leider lieferte der Jan von der »Gesellschaft für kritische Bildung« lediglich ein fleißiges Referat im Proseminarstil ab, das alle Schlagworte des antideutschen Diskurses anführte. Detlef zum Winkel erging sich in Märchenonkelei: »Antideutsch« als Etikett stammte seiner Erzählung nach nicht vom heutigen Faschisten und damaligen Oberantideutschen Jürgen Elsässer, sondern sei den Kritikern der »Wiedervereinigung« von außen aufgedrückt worden, man habe den Begriff nur positiv umcodiert. So wie die Begriffe »slut«, »nigger« und »queer«, möchte man ergänzen, damit darf sich der gemeine deutsche Antideutsche wohl auch zu einer unterdrückten Minderheit zählen, die sich fremde Zuschreibungen identitätspolitisch-subversiv aneignet. Zum Winkel präsentierte die Antideutschen als bessere Antifaschisten nach der »Wiedervereinigung«, unterschlug die emphatische Kriegsunterstützung dieses Milieus nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und riet am Ende zu einem Bündnis mit den »Omas gegen rechts« gegen Illiberalismus jeder Couleur – von Trump über Putin und Wagenknecht bis zum Iran.

Man konnte also froh sein, dass Wertmüller sich der geforderten Reflexion entzog und nochmals aufführte, was ein waschechter Antideutscher war oder ist: Für ihn ist Lenin ein blutsaufendes Scheusal, der Antiimperialismus nationaler Befreiungsbewegungen triefe ebenfalls blutrot. Die Linke sei verkommen und antisemitisch, und der angeblich propalästinensische CSD habe unlängst die größte Judenhasserdemo seit den Nazis auf die Straße gebracht – ganz im Zeichen der Melone mit schwarzen, besser »tiefbraunen Kernen«. Als der junge Platypus-Jan höflich erwähnte, dass US-Imperialismus und Islamismus genauso ineinander griffen wie Hamas und israelische Politik, also zum ersten Mal ein wenig Realität im Hörsaal verhandelt zu werden drohte, sprang Wertmüller auf und verließ wild fuchtelnd das Podium. Seine Anhänger schrien beim Rausgehen: viel Spaß mit eurer Israel-Kritik!

Die Luft im Saal wurde erträglicher. Der Teil des Publikums, der wie völkische Studenten der 1920er Jahre aussah, war gegangen. Etwas zivilisierter, wenn auch nur wenig vernünftiger ging es weiter. Eine junge, punkig aussehende Studentin ereiferte sich: »Wir als Nazienkel« müssen »mehr tun«! Mehr für Israel, mehr gegen »diesen unerträglichen Antisemitismus«. Die Palästinenser blieben abwesend. Als Opfer Israels gelten sie den anwesenden Antideutschen ohnehin nicht. Für die vergangenheitsbewältigende Psychohygiene der Nazienkelinnen dürfen sie gerne über die Klinge springen. »Hamas zu Humus« und alle drumrum auch, darüber lachen Antideutsche.

Platypus bietet Lesekreise an, vor allem zur Kritischen Theorie. Man ist bildungsbeflissen und lesehungrig. Doch was nützt die Lektüre der »Studien zum autoritären Charakter«, wenn man mit dem Gelesenen nichts anzufangen weiß? Warum beispielsweise Leo Löwenthal studieren, wenn man einen faschistoiden Agitator nicht als solchen zu erkennen vermag? Wertmüllers Vortrag war in Stil und Inhalt ein gutes Beispiel dafür, was Adorno und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« mit dem Begriff der »pathischen Projektion« beschrieben.

Ein Zuhörer fragte: Könnt ihr nicht bilanzieren, was gut gelaufen ist? Eure Erfolge? Ja, irgendwie haben wir ja auch etwas gewonnen, räsonierte zum Winkel, irgendwas, irgendwo … er wisse aber nicht so recht warum. Aber irgendwie schon. Aus dem Publikum kam niemand auf die Idee zu sagen: Stimmt, es gibt heute staatliche Antisemitismusbeauftragte, die ganz wie die Antideutschen die Gefahren eines »linken Antisemitismus« an die Wand malen. Stimmt, es gibt heute einen neuen »Zeitenwende«-Bellizismus, bei dem man sich durchaus an Texte aus Konkret, Jungle World und Bahamas aus den Jahren 1991, 2001 und 2003 erinnert fühlen kann.

Der angegraute zum Winkel wandte sich ans Publikum: Ihr seid die neue Generation, ihr könnt jetzt loslegen, ohne das alte Gepäck von DKP, K-Gruppen und ähnlichem. Die Gewerkschaften oder die Linkspartei, jetzt wo endlich Wagenknecht weg sei, seien die richtigen Orte um politisch zu wirken. Als würde es dort an antisozialistischer Agitation für Israel und gegen Putin fehlen. Beeilt euch lieber, möchte man den Zuhörern zurufen: Die besten Posten dürften schon weg sein.

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