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Aus: Ausgabe vom 09.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Olympiatelegramm

Leben in Echtzeit

Von Jürgen Roth
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»Hier lohnen sich die Gebührengelder. Hier hat man das Fernsehen, das man will« – Rüdiger Suchsland

Ich sitze vor dem »Seven Bistro«. Mir wird’s langsam zuviel. Es droht ein mentaler Gleichgewichtsbruch mit womöglich anschließendem »Beinsalat« (Dressurreiterin Jessica von Bredow-Werndl) auf Grund notgedrungen regellosen Konsums von Gutmann, aaaahhh, leck mich, mundet das wieder!

Bis zu zehn Streams laufen neben dem analogen Programm, man bräuchte folglich elf Köpfe und eine Zeitpotenzierungsmaschine, um alles sehen zu können. Vielleicht kriegen das die faschistischen Transhumanisten aus dem Silicon Valley in der näheren Zukunft hin.

Ich als Materialist präferiere hartnäckig das Physische. Daher liegt der Papierausdruck eines sogenannten Artikels von Rüdiger Suchsland vor mir, der am Mittwoch auf Telepolis veröffentlicht worden ist.

Ich hatte dem Suchsland in der Taz vom Dienstag ein paar hochverdiente Ohrfeigen verpasst, für den nicht taxierbaren, bis ins letzte Komma, das er falsch setzt, verblödeten Scheißdreck, den er zu Olympia zusammengeschlampt hatte. So besoffen kann nicht mal ich sein, um einen derartigen Mumpitz auszuspeien.

Ich bin mit den offenbar von der Berliner Machtkaste geschmierten Chefdanebendenkern der Nürnberger Nachrichten, den Herren Jungkunz und Husarek, hinreichend gestraft, doch nun versalzt mir zusätzlich der Suchsland, der Filmkritiker sein soll (die Filme mögen vor ihm in Deckung gehen), die frohen Morgenstunden.

Dieser Platinstümper sammelt Pleonasmen und Hendiadyoin (»jetzt gerade«, »Augenzeuge und Beobachter«), hat die Interpunktionsstunden geschwänzt (»es ist aber kein Sportkommentar, der die Nicht-Reitsportexperten mitnimmt und erinnert eher an den Ton einer Kirchenansprache, als an eine Sportreportage« – so stiefelt’s durch den gesamten Text, und eine »Kirchenansprache« dürfte eine Predigt sein), nötigt die Flexion objektiv zum Subjektivismus (»das mit seinem subjektivistischem Kitsch jedes Bild zugießt« – gibt’s, nebenbei, objektivistischen Kitsch?), weiß nichts zu sagen und schmiert deshalb ununterbrochen Partikeln in seine versauten Sätze hinein (»völlig«, »komplett«), hantiert mit dem Numerus ad libitum (»wenn Wirklichkeit sich gegen den vorgegebenen Rahmen durchsetzen«) und hat ja auch ein Thema: den »deutschen Olympiajournalismus«.

Was der Mann uns beibiegen will, ist mir selbst nach der dritten Lektüre eines Stopfers, in dem alles fünfmal wiederholt wird, nicht recht klar. Verstanden habe ich, dass der Filmkritiker, der »schlechte, also inhaltistische und illustrative Filme« ablehnt (Filme mit »Inhalt«? Bäh! Bäh! Es sei denn, es wäre der »richtige« Inhalt), das aktuelle Fernsehen knorke findet, weil er den Bildschirm mit dem Leben verwechselt: »TV in seiner reinsten Form: Leben in Echtzeit. Wer zwölf Tage lang Olympia im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sieht, weiß, so muss Fernsehen sein.« Ergo: »Hier lohnen sich die Gebührengelder. Hier hat man das Fernsehen, das man will.«

Wollte man die staats- und konzernunabhängigen Medien diskreditieren, ließe man den Antiinhaltisten Suchsland rund um die Uhr ran. Und man stellte ihm ’ne weitere Kiste Schnaps hin.

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