Seine letzte Reise
Von Ronald KohlAls der isländische Koch Kristofer (Egill Ólafsson) das erste Mal seinen Sohn sieht, muss er sich schwer zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Akira (Eugene Nomura) ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem hat auch er es in der japanischen Küche zur Perfektion gebracht und betreibt nun, genau wie der Vater, ein eigenes Restaurant. Nur ahnt Akira nicht im entferntesten, was es mit dem europäischen Gast, der da gerade seine Bestellung bei ihm aufgibt, auf sich haben könnte.
»Die Welt ist ein besserer Ort, wenn sie auf dem Kopf steht, Junge«, heißt es in dem Song »Sweet About Me« von Gabriella Cilmi. Dieser »Ansicht« folgt das Kinoplakat, mit dem »Touch« im englischsprachigen Raum beworben wird. In dessen oberem Teil sehen wir einen müden alten Mann, der allein in einem Zugabteil sitzt. Darunter, und zwar spiegelbildlich, also kopfstehend, ist in demselben Zugabteil ein junges Pärchen zu sehen. Sie erleben unverkennbar die glücklichsten Momente ihres Lebens. Beide studierten damals, Ende der 60er Jahre, in London. Es ist die Zeit des politischen Aufruhrs der jungen Generation. Die Rolling Stones singen über den »Street Fighting Man«, und John Lennon und Yoko Ono verbringen die Flitterwochen vor den Augen der Weltöffentlichkeit in einem Kingsize-Bett im Amsterdamer Hilton. Und der kommunistisch angehauchte Kristofer beschließt schließlich, endgültig die Seiten zu wechseln. Er schmeißt sein Studium an der renommierten London School of Economics und wird zum Tellerwäscher.
In dem wegen seiner exzellenten Speisen sehr gut besuchten japanischen Restaurant »Nippon«, einer früheren Eckkneipe, fühlt sich Kristofer auf Anhieb wohl. Mir ist dabei fast übel geworden, weil ich nicht schon wieder einen asiatischen Kochfilm besprechen wollte, aber Gerichte spielen in »Touch« keine Rolle, und die Speisekarte ist auch für Kristofer nicht das eigentliche Thema. Er interessiert sich vor allem für Miko (Kōki), die Tochter seines Chefs, die aushilfsweise im »Nippon« kellnert und dummerweise schon einen Boyfriend hat. Der stammt zwar auch aus Japan, doch Mikos Vater lehnt ihn kategorisch ab.
Der auf Island geborene Regisseur Baltasar Kormákur hatte seinen größten Erfolg bisher mit dem aus dem Jahr 2015 stammenden Bergdrama »Everest«, das eines der opferreichsten Unglücke in der Geschichte der touristischen Gipfelstürmerei aufgreift. Die Verbindung zwischen »Touch« und »Everest« besteht darin, dass der Regisseur bei der Promotiontour für den Bergfilm Japan besuchte und von dem Land auf Anhieb dermaßen fasziniert war, dass er unbedingt dorthin zurückkehren wollte. Da kam ihm der Bestseller »Snerting« (Berühren) des isländischen Autors Ólafur Jóhann Ólafsson sehr gelegen. Das Drehbuch für »Touch« haben sie gemeinsam geschrieben. Es ist sehr rückblendenlastig geraten. Zudem tauchen im Film mitunter auch Bilder aus der Vergangenheit auf, die mit der laufenden Handlung rein gar nichts zu tun haben: Wenn zwei alte Männer, die schon reichlich Sake konsumiert haben, eine Karaokebar stürmen, kann ich mir nicht erklären, warum der eine, während der andere singt, plötzlich an Sex denkt, der dann auch noch ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Aber Miko war nun mal Kristofers große Liebe. Ihren japanischen Verehrer konnte der Vater damals schon sehr bald mit nur einem Wort in die Flucht treiben: Hibakusha. Das ist die ausgrenzende Bezeichnung für die Überlebenden der Atombombenabwürfe.
»Touch« erzählt einerseits, wie schnell Liebe und Zusammenhalt Opfer zeitgeschichtlicher Umstände werden können, und zeigt doch auch, was möglich ist, wenn ein Liebender die Widrigkeiten rings um ihn einfach ignoriert. Seine letzte Reise, die ihn erst nach London und dann nach Hiroshima führt, tritt Kristofer trotz der zahllosen eindringlichen Warnungen seiner Tochter angesichts des Ausbruchs von Corona an. So trifft er Miko wieder und hat immer schön viel Platz im Flieger.
»Touch«, Regie: Baltasar Kormákur, Island 2024, 121 Min., bereits angelaufen
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