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Aus: Ausgabe vom 10.08.2024, Seite 12 / Thema
Rechte Kontinuitäten

Rückwärtser immerdar

Geschichte und der Kampf um deren Bilder. Wie sich der Konservatismus seinen ­gesellschaftlichen Einfluss bewahren konnte und eine Linke ihre Positionen räumt
Von Ludwig Elm
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Mit einem klaren Bewusstsein dafür, welche Probleme und Gefahren von den Konservativen drohen. Friedensbewegung demonstriert am 1. April 1972 in Stuttgart gegen die Unionsfiguren Rainer Barzel, Franz Josef Strauß und Hans Filbinger

Am heutigen Samstag wird der Konservatismusforscher Ludwig Elm 90 Jahre alt. Lange Zeit lehrte und forschte er an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sein Studien- und Forschungskollege Manfred Weißbecker schrieb vor zehn Jahren in dieser Zeitung: »Wird heute über Wurzeln, Elemente und geschichtliche Wirkungen des Konservatismus, über dessen Spielarten und Entwicklungsstränge sowie über ›Falsche Propheten‹ (so der Titel eines von ihm 1984 herausgegebenen Bandes) und Leitbilder des deutschen Konservatismus geforscht, führt kein Weg an den Ausführungen Ludwig Elms vorbei.« Wir möchten an dieser Stelle dem Historiker Ludwig Elm gratulieren und veröffentlichen eine redaktionell gekürzte Fassung eines von ihm verfassten Beitrags, der 2021 in dem Sammelband »Das faschistische Echo der Vergangenheit« erschien. (jW)

Die konservative Grundströmung der Politik, der politischen Ideologie und Theorie, ist eine prägende Konstante des 1871 entstandenen deutschen Kaiserreichs sowie der ihm ab 1918/19 bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts folgenden wechselnden Herrschaftsformen. Als analytisch unverzichtbar und beweiskräftig erweisen sich Kontinuität und Stabilität der sozioökonomischen Grundstrukturen – voran der Eigentums- und Verteilungsverhältnisse, der vielfach namhaften Unternehmen und Konzerne, Banken, Großgrundbesitzer und sonstigen Vermögen einschließlich der Familienclans mit Rang und Namen innerhalb der dauerhaften sozialen und politischen Hierarchien. Dem Aufstieg des Konservatismus und seiner Radikalisierung im Übergang zum Imperialismus entsprach in dialektischer Wechselwirkung der Niedergang des Liberalismus, soweit er überhaupt noch Elemente seines ursprünglichen progressiven antifeudal-freiheitlichen und antimonopolistischen Ursprungs enthielt: Der Abstieg erfolgte über den Nationalliberalismus als Stütze Bismarckscher Politik zu den stetig nach rechts verlaufenden Umgruppierungen sowie dem Einfluss- und Bedeutungsverlust des Linksliberalismus bzw. des Freisinns.

Konservatismus im Laufe der Zeit

Angesichts der heute euphorischen Würdigung der »ersten deutschen Demokratie« sei daran erinnert, dass keine der bürgerlichen Parteien im Reichstag vor dem November 1918 die bürgerlich-parlamentarische Republik und die volle staatsbürgerliche Gleichstellung der Frauen gefordert oder gar angestrebt hatte. Beide Forderungen vertrat die 1908 gegründete Demokratische Vereinigung (DV) unter Theodor Barth, Rudolf Breitscheid und Hellmut von Gerlach. Heinrich Mann stand ihr als Autor zur Seite, und der Leiter der Hamburger Ortsgruppe der DV, Carl von Ossietzky, begann in ihrem Blatt seine journalistische Karriere. Die DV gewann in der Reichstagswahl 1912 kein Mandat. Dass sie gegen Militarisierung und Hochrüstung sowie das reaktionäre preußische Dreiklassenwahlrecht – gar an der Seite der Sozialdemokratie – auftrat, brachte ihr Hasstiraden bürgerlicher Politiker und Medien ein. Für Breitscheid, Gerlach, Mann und Ossietzky gab es nach dem Reichstagsbrand 1933 nur die Wahl zwischen Emigration oder KZ mit Todesfolge.

Der in jener Vorgeschichte entstandene konstitutive Mangel der deutschen Bourgeoisie an echtem Republikanismus ist ihren Parteien und Politikern, deren Reden und Handeln, sowie den Medien bis heute anzumerken; die Katzbuckelei vor Aristokratie und Monarchismus ist ihnen seit der Niederlage von 1848/49 ebenso angeboren wie die Gegnerschaft zu Sozialismus, Pazifismus und Antifaschismus.

Der Konservatismus übte eine zunächst direkte und später eher mittelbare Schlüsselrolle bei den zwei weltgeschichtlichen Großverbrechen zwischen 1914 und 1945 aus, die das Deutsche Reich erheblich oder entscheidend als Initiator und Akteur zu verantworten hat: 1914 bis 1918 sowie 1939 bis 1945. In beiden Fällen ging er daraus zu Recht als äußerst kompromittiert hervor und überlebte danach zunächst vorrangig durch seine gemäßigteren, jeweils weniger belasteten Gruppierungen und Repräsentanten. Außer dem katholischen Zentrum – das allerdings Bayern an die Bayerische Volkspartei (BVP) verlor – war es im November 1918 zur Auflösung und Neubildung aller bürgerlichen Parteien gekommen: »Konservativ« verschwand bei der damaligen Metamorphose aus den Parteinamen und Gründungsdokumenten; der Begriff wurde unter dem Eindruck der Novemberrevolution durch »Volk«, »demokratisch« oder »national« ersetzt.

Ein symptomatischer Wandel zur Aufwertung des geächteten Begriffs trat mit den verschärften Krisenprozessen ab Ende der 1920er Jahre und im Wettlauf mit der NSDAP nach rechts außen ein. Aus Abspaltungen der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) entstand Anfang 1930 die Volkskonservative Vereinigung (VKV), die am 23. Juli 1930 mit einer anderen Gruppe die Konservative Volkspartei (KVP) gründete. Wenige Tage später kommentierte Carl von Ossietzky in der Weltbühne den Vorgang: »Es ist auch beachtenswert, dass eine neue Partei sich wieder zu der lange verpönten Marke ›Konservativ‹ zu bekennen wagt. Denn in den vergangenen Jahren war man ›national‹ oder sonstwas, aber beileibe nicht ›konservativ‹.« Die »Rückwärtser« beziehen einen Namen neu, »den sie 1918 panikartig verlassen haben«. An das alte Wort haben sie »ein Stückchen Volk gepappt« und kämen sich »deswegen schrecklich modern« vor. Das Gros sei »einfach sozialreaktionär«. Alle »Tendenzen des Bürgertums laufen auf die Schaffung eines geschlossenen arbeiterfeindlichen Blocks hinaus«. Der »zeitweilige Gegensatz zu den Rechtsextremisten« nötige zu einer liberaleren Argumentation, jedoch »ihr Ziel ist die Diktatur, eine etwas feinere als die Hitlersche, aber doch eine Diktatur«.

Mit großer Ähnlichkeit wiederholten sich nach 1945 unter veränderten Bedingungen Ansehen und Schicksal des Konservatismus. Der zunächst nach links tendierende gesellschaftspolitische Reformgeist in Europa, Erfahrungen mit den Rechten seit 1914 und in den faschistischen Diktaturen sowie demagogische Bedürfnisse der restaurativen Strategie in den Westzonen und in der frühen Bundesrepublik legten verbliebenen, sich reorganisierenden und neu antretenden Rechtskräften nahe, sich nicht nur von Parolen und Programmen ihrer parteipolitischen Vorgänger und Vordenker, sondern auch von deren Namen und Etikettierungen zu distanzieren. »Konservatismus« wurde seitens der Führungskreise der Restauration – voran CDU/CSU –, vor dem Hintergrund der unbedingten Westbindung und baldigen Remilitarisierung wiederum tabuisiert; lediglich kleinere extrem rechte Zusammenschlüsse behielten ihn trotzig bei. Die Belastung aus den Jahrzehnten vor 1945 wirkte über eine längere Nachkriegsperiode sowie bis heute in Kontroversen zu konservativer Ideologie und Strategie nach.

Ein Wandel war ab Mitte der sechziger Jahre eingetreten, und wiederum spielten dabei krisenhafte Erscheinungen und Herausforderungen eine stimulierende Rolle. Dazu gehörten vor allem die zyklische Krise von 1966/67, der Aufschwung und die Wirkungen von Außerparlamentarischer Opposition (APO) und studentischer Protestbewegung, die auffälligen Positionsgewinne der NPD sowie die Wahrnehmung der intellektuellen Defizite der Unionsparteien und der FDP sowie ihres Umfeldes. Vielfach neu entstandene Vereine, Gruppierungen in Parteien und Verbänden, Verlage und Periodika, plädierten nun für eine Rehabilitierung der nach ihrer Auffassung zu Unrecht und zu umfassend verrufenen konservativen Traditionen und Erbschaften. Beispielsweise entstand in München 1966/67 die rechtskonservative Deutschland-Stiftung; sie wurde von Adenauer in seinem letzten Lebensjahr protegiert, die von ihr ausgelobten Preise für Rechtsintellektuelle und konservative Politiker tragen seinen Namen. Auch Bernhard Vogel fand hier seine ideell-politische Heimat. Spektakulär war Ende 1968 das umstrittene Bekenntnis im dritten Parteiprogramm der CSU, neben anderen Eigenschaften auch konservativ zu sein.

Der Fall SPD

Kristina Meyer hat in ihrer 2015 veröffentlichten Studie »Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945–1990«, nachgewiesen, dass die SPD-Führungen nach Faschismus und Zweitem Weltkrieg auch auf diesem entscheidenden Feld kein eigenes wissenschaftlich fundiertes und unverwechselbares Profil zu entwickeln imstande waren. Antifaschistische Positionen und Initiativen – vor allem der Parteibasis – verdienen Anerkennung. Die Abkehr von grundsätzlichen gesellschaftlichen Alternativen und ein prägender Einfluss des Antikommunismus verhinderten jedoch, Antifaschismus im öffentlichen Raum selbstbewusst und offensiv zu vertreten. Sie bedeuteten für sozialdemokratische NS-Verfolgte und Widerstandskämpfer Jahrzehnte weitgehender Selbstverleugnung und geringer politischer Wirksamkeit in der bundesdeutschen Politik und im geistig-kulturellen Leben.

Mit den Aufbrüchen in den sechziger Jahren und der sozialliberalen Koalition ab 1969 und konfrontiert mit den Anfeindungen von rechts bildete sich immerhin noch einmal ein der SPD verbundener Kreis von Intellektuellen heraus, der bis zur Zäsur von 1989/90 auf einen entschiedeneren Einsatz gegen die Rechten aller Schattierungen drängte sowie nachdrücklich für friedens- und abrüstungspolitische Strategien und mehr soziale Gerechtigkeit eintrat. In den eigenen Erinnerungen finden sich solche Initiativen am Beispiel des Publizisten, Herausgebers und Verlegers Rolf Seeliger. Er hatte im Februar 1961 in München eine Ausstellung über den nazistischen Massenmord einschließlich Dokumenten zur Tätigkeit Hans Globkes von 1932 bis 1945 gezeigt. Das brachte ihm Verfolgung, Ermittlungen und ein Gerichtsverfahren ein. 1964 bis 1968 folgten sechs Hefte der Dokumentation »Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute«.

Seeliger gab von 1971 bis 1983 eine Reihe thematischer Hefte mit Beiträgen von der SPD angehörenden oder nahestehenden Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern und Schriftstellern heraus. Der erste Titel »Quo vadis SPD? Aktuelle Beiträge zur Mobilisierung der Sozialdemokratie« erschien 1971. Ideell-politische Leitlinien der Sammlungen waren entschiedene Auseinandersetzung mit der Rechten – voran der CDU/CSU –, sowie Plädoyers für Entspannung und Abrüstung, darunter 1983 die Absage an die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenwaffen: »Wir brauchen Produkte für das Leben und nicht Waffen für den Tod.« Unter den Autoren der Hefte finden sich u. a. Egon Bahr, Willy Brandt, Björn Engholm, Erhard Eppler, Peter Glotz, Günter Grass, Karl-Heinz Hansen, Oskar Lafontaine, Dieter Lattmann, Albrecht Müller, Peter von Oertzen, Hermann Scheer, Karsten D. Voigt und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Es gab noch ein beachtliches linksintellektuelles Potential in der SPD und derem engeren Umkreis; Seeliger bemühte sich, es in der Schriftenreihe zu bündeln sowie in der Partei und darüber hinaus wirksam werden zu lassen.

Exemplarisch für jenen Kreis kann Peter Glotz genannt werden – als Wissenschaftler und Politiker, darunter 1981 bis 1987 als Bundesgeschäftsführer der SPD sowie Autor mehrerer Bücher, die kritisch und weitsichtig in die jeweils aktuellen Problemlagen und Diskurse eingriffen. Angesichts der heutigen Rechtsentwicklung im europäischen und globalen Rahmen verdient Glotz’ Schrift »Die deutsche Rechte« (1989) Aufmerksamkeit. Er registrierte bereits damals den Verlust an Integrationskraft der beiden »Volksparteien«; es bestehe »die Gefahr, dass neben der CDU/CSU eine ›autonome‹ Rechte aufkommt«. Glotz zitierte dabei eine Aussage Kurt Schumachers vom 5. Oktober 1945: »Die große politische Gefahr für Deutschland ist der rechte Flügel der CDU.« Die Hauptfigur seiner neuen Schrift heiße nicht Franz Schönhuber. »Die Hauptfigur dieser Schrift heißt Helmut Kohl. Er ist, seinen vielen Verächtern zum Trotz, seit 1973 die Zentralfigur in der rechten Hälfte des politischen Spektrums.« Die »größte Partei der Rechten in der Bundesrepublik, die CDU«, sei von Adenauer und Kohl geprägt worden. Seine Schrift sei »ein Plädoyer fürs genaue Hinschauen, also die Unterscheidung zwischen rechtsliberalen, liberalkonservativen, nationalkonservativen, rechtspopulistischen, rechtsradikalen, rechtsextremistischen und rechtsterroristischen Gruppen und Splittern«.

Seit den neunziger Jahren kann von einer der Sozialdemokratie verbundenen, nennenswerten Gruppe, die als Linksintellektuelle für die Partei Autorität und Einfluss besäßen, nicht mehr gesprochen werden. Die Schröder, Eichel, Beck, Platzeck, Gabriel, Schulz, Nahles und andere bedurften ihrer – wie sie sich zum Schaden der SPD einbildeten – nicht. Jahre der Großen Koalition verschlissen eigenes Profil und Habitus. Der Geschichtspolitik, die Erinnern und Gedenken als wesentliche und öffentlichkeitswirksame Komponenten einschließt, aber auch einem historisch fundierten Selbstverständnis, kommen jedoch besondere Bedeutung zu. In den beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages zwischen 1992 und 1998 zur »SED-Diktatur«, seither in der Stiftung zu deren »Aufarbeitung« und in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes folgte die SPD – wie die Grünen – geschichtsideologisch im wesentlichen den Unionsparteien. Abweichungen ergaben sich am ehesten noch, wenn spezifische Parteiinteressen beider Seiten zu Unterschieden in Darstellungen und Wertungen führte. Die Auflösung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD 2018 war symptomatisch als auffälliges Zeichen der Geringschätzung und des Verlustes eigener Konturen; die weitreichende Bedeutung der Geschichtsbilder für Bewusstseinsbildung und politische Orientierung wurde und wird dabei verkannt.

Umgang mit der Vergangenheit

Marc Tribelhorn, Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, schrieb in der Ausgabe vom 31. Oktober 2019 einen anregenden Grundsatzbeitrag über »Kriminalisierte Vergangenheit«. Er fügte hinzu, dass Historiker keine Richter sind, jedoch Politik und Öffentlichkeit von der Geschichtswissenschaft »immer häufiger eindeutige Urteile über früheres Unrecht« verlangen. Von ihm keineswegs direkt angesprochen, legen seine Beispiele und Argumente durchgängig substantielle Bezüge zur regierungs- und parteioffiziellen Geschichtspolitik in der Bundesrepublik seit Beginn der neunziger Jahre nahe. Leitmotiv der Historiographie – so der Autor – müsse jedoch das Verstehen sein. Es gäbe aber »eine zuvor nicht gekannte Verrechtlichung der Vergangenheit, die sich in der Verknüpfung von geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen mit politischer Moral und gesetzlichen Sanktionsmitteln manifestiert«. Dies sei weltweit zu beobachten und Teil der politischen Kultur geworden. Es würden Kommissionen zur »Aufarbeitung der Geschichte« eingesetzt und »bestimmte Deutungen der Vergangenheit in Strafnormen festgeschrieben«.

Aus diesen Tendenzen ergäben sich einige grundlegende Probleme: »Zumindest für den liberalen Rechtsstaat gilt, dass er nicht für historische Wahrheiten zuständig ist, sondern unterschiedliche Erinnerungskulturen dulden sollte. Kurz: Offene Gesellschaften bedürfen keiner offiziellen Geschichte.« Abschlussberichte historischer Kommissionen würden vielfach zu »Zertifikaten einer Überprüfung«, sie können jedoch »immer nur den Anfang« bedeuten. Historiker hüten keine »Staatswahrheit«, sondern sollen Vergangenes plausibel rekonstruieren und zum Verstehen beitragen. Ihren Forschungsergebnissen ist kein »Tribunalcharakter« zuzuschreiben; juristische Begriffspaare wie Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht werden ihnen nicht gerecht und gehören in den Gerichtssaal. Es sei problematisch, bei Berichten von Experten zu »glauben, damit habe die Sache ihr Bewenden«. Diese »Schlussstrichhaltung« verhindere, was Geschichtsforschung erst produktiv mache: »Es sind dies die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart, das Nachdenken über vermeintliche Selbstverständlichkeiten sowie die Frage: Welche Handlungen können uns nachfolgende Generationen dereinst zum Vorwurf machen?«

Der Koalitionsvertrag für eine Minderheitsregierung in Thüringen vom Januar 2020 enthält wiederum Aussagen zu DDR-Unrecht und erwähnt erneut mit keinem Wort wiederholtes, teilweise massenhaftes Unrecht in der Bundesrepublik. Eine oberflächlich-einseitige und verzerrende, in fragwürdiger Verallgemeinerung auch wahrheitswidrige Kennzeichnung der DDR wurde aus dem Koalitionsvertrag vom 4. Dezember 2014 für die 6. Wahlperiode des Landtags übernommen. Sie soll offenbar in die Geschichtsbücher als eine allgemeingültige Charakteristik eingehen. Die Schlusspassage des Dokuments wurde ebenfalls vom damaligen Vertrag abgeschrieben. Eine Frage dazu: Wer sind jene, »die in der DDR Schuld auf sich geladen haben« oder – konkreter gefragt – von welcher »Schuld« ist hier nach dreißig Jahren die Rede – und aus welchem Anlass und mit welchem Ziel? Die vergangenen fünf Jahre blieben ungenutzt, um die Funktion und Berechtigung solcher und ähnlicher Aussagen kritischem Nachdenken und einer Überprüfung zu unterziehen.

Seit Karl Jaspers’ Schrift »Die Schuldfrage« von 1946 gibt es eine gültige und hilfreiche Präzisierung von »Schuld« in vier Kategorien: kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld. Sie sind zu unterscheiden und zu benennen, ohne Querverbindungen zwischen ihnen zu ignorieren. Der offizielle Umgang mit Gesellschaft und Geschichte der DDR seit Anfang der neunziger Jahre ist von der absichtsvollen Verwischung der von Jaspers genannten Unterscheidungen dominiert. Nur auf diesem Weg konnten die erstrebte pauschale Denunzierung bis zur Kriminalisierung erreicht sowie rechtsstaatlich fragwürdige Folgerungen daraus abgeleitet werden. Wie ist nach 15, 20 oder gar nun mehr als 30 Jahren, mit individueller politischer oder moralischer Schuld umzugehen? Wie war es beispielsweise bereits nach zwei Jahren der Bundesrepublik und allein auf die erwiesenermaßen kriminell Schuldigen des vorangegangenen Verbrecherstaats bezogen – nach Straffreiheitsgesetz Ende 1949, durchgängiger »kalter Amnestie« und Gesetz zu Art. 131 GG vom Mai 1951? Wer entscheidet mit welchen Motiven über Verjährungen, Amnestien oder Befristungen? Gibt es nicht sogar – Buße und angemessene Zeiträume vorausgesetzt – selbst nach schweren Verbrechen bis zum Mord einen Anspruch auf vorbehaltloses und gesellschaftliches Vergessen, auf den Rechtsanspruch des einzelnen bezogen? Aber nicht für ein unter anderen Bedingungen missbilligtes politisches Verhalten, falls es linksgerichtet war oder gar für die DDR wirkte?

Weiter. Die unkritische Übernahme eines Verständnisses und Begriffs von »Diktatur«, mit denen seit mehr als zwei Jahrzehnten in der offiziellen Gedenk- und Erinnerungspolitik der Bundesrepublik eine Parallelisierung von DDR und nazistischem Verbrecherstaat erfolgt, höhlt Grundpositionen eines alternativen Geschichtsbildes aus: Die Nazidiktatur wird relativiert und dem vergangenen zweiten deutschen Staat wird geschichtsverfälschend eine Wesensgleichheit mit ihr zugewiesen. Es ist der Übergang auf Konstruktionen eines rechtsgerichteten Totalitarismuskonzepts, dessen verklärter Gegenpol zu »Diktatur« die bürgerlich-parlamentarische Demokratie in ihrer heutigen Gestalt als Herrschaftsform des Großkapitals und seines Anhangs darstellt. Sie soll als weltweit alternativloses Leitbild und Realität von Demokratie und Freiheit gelten. Inzwischen bedienen sich auch Linke statt des historischen Eigennamens wie selbstverständlich des diffamierenden Terminus »SED-Diktatur«, der in der BRD ungeachtet der verlogenen Wortwahl für den faschistischen Vorgängerstaat als »Drittes Reich« und »Nationalsozialismus« bedenkenlos übernommen wurde und bis heute als selbstverständlich gilt.

Die liberale US-amerikanische Philosophin Susan Neiman hat 2020 unter dem Titel »Von den Deutschen lernen« ein Buch zum Umgang von Gesellschaften »mit dem Bösen in ihrer Geschichte« vorgelegt. Bereits Auszüge in der Zeit vom 5. März 2020 sind vor dem Hintergrund der Vorgaben und Grenzen im offiziösen bundesdeutschen Geschichtsdiskurs bemerkenswert. Das gilt für ihre treffende kritische Charakteristik der Parallelisierung von DDR und NS-Diktatur ebenso wie ihre Argumente gegen die Diffamierung des Antifaschismus der DDR: »Antifaschismus war Staatsräson der DDR, mit gutem Grund: Als Herzstück des Nazigedankenguts war der Antikommunismus mindestens so zentral wie der Antisemitismus.« Wenn sie darauf bestehe, »dass der Antifaschismus der DDR ein aufrichtiger Versuch war, die Nazizeit aufzuarbeiten«, behaupte sie nicht, dass der Weg makellos gewesen sei. Der Redaktion der Zeit fiel als erste Erwiderung auf solche im Establishment ungewohnte und unbeliebte Aussagen nichts Besseres ein, als einen peinlich-ignoranten Kommentar von Micha Brumlik daneben zu stellen, der die souveräne Sicht von Neiman auf bundesdeutsches Geistesleben unfreiwillig bestätigte.

Suspekter Antifaschismus

Die antifaschistischen Ursprünge und Grundlagen der DDR werden als »verordnet« denunziert. Als Vorwand werden autoritäre und einseitige Züge der offiziellen Geschichtspolitik der SED genannt. Sie sind nicht zu bestreiten, rechtfertigen jedoch keineswegs die pauschale Herabsetzung des in Lebenswegen, Handeln, Manifestationen, Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst von Millionen Menschen in der DDR angenommenen und gestalteten antifaschistischen Traditionen, Wertauffassungen und politischen Folgerungen. Die wirklichen Motive der herabsetzenden Umschreibung finden sich in den Ursprüngen und Grundlagen der Bundesrepublik und der in ihrem Herrschaftssystem dominierenden konservativen und entschieden antikommunistischen Kräfte. Nach der Vorgeschichte seit der Reichsgründung bis 1945 war Restauration ab 1947/48 nur mit skrupelloser Verdrängung der jüngsten Geschichte möglich. Erklärter Antifaschismus war dabei ein fremder und störender Faktor, der deshalb unwirksam gemacht werden musste. Antifaschismus allgemein und insbesondere der kämpferische der Arbeiterbewegung seit den zwanziger Jahren, waren der ab September 1949 in Bonn regierenden rechtsgerichteten Vierparteienkoalition und ihrer Anhängerschaft suspekt; er blieb es über wechselnde Koalitionen und auch in der ab 1990 vergrößerten Bundesrepublik.

Auszug aus: Das faschistische Echo der Vergangenheit. Lehren von Weimar für linke Politik heute. Hrsg von Ludwig Elm, Manfred Weißbecker u. a., VSA-Verlag, Hamburg 2021, S. 49–67

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