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Aus: Ausgabe vom 10.08.2024, Seite 15 / Geschichte
Naziverbrechen

Ein ungesühntes Verbrechen

Vor 80 Jahren verübten SS-Einheiten ein Massaker in dem italienischen Dorf Sant’Anna di Stazzema
Von Ulrich Schneider
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Kontrolle nach Verbrechen. Nazisoldat bei erschossener Partisanin, Sant’Anna di Stazzema

Wer sich mit dem Massaker der 16. SS-Panzergrenadier-Division »Reichsführer SS« in Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944 beschäftigt, stellt sich aus heutiger Perspektive die Frage, worüber man mehr erschrecken sollte, über die Brutalität der faschistischen Verbrecher oder die Ignoranz des juristischen Umgangs mit diesem Verbrechen an der italienischen Zivilbevölkerung.

Mordbrenner

Am Morgen des 12. August rückten SS-Einheiten unter dem Kommando von Anton Galler und Walter Reder auf das in der Toskana gelegene Dorf Sant’Anna di Stazzema vor. Einheiten der Wehrmacht – es wird von einem Teil des Hochgebirgsjägerbataillons 3 gesprochen – sperrten das Gebiet ab. In den Tagen zuvor hatte es Schusswechsel mit Partisanen gegeben, weshalb nun »Vergeltung« angeordnet war. Die SS trieb die Bewohner angrenzender Weiler auf Sammelplätze, in Stallungen und Hinterhöfe und ermordete sie mit Handgranaten und Feuerwaffen. In Sant’Anna selbst wurden die Dorfbewohner vor der Dorfkirche mit Maschinengewehrfeuer niedergeschossen. Die meisten Häuser der Siedlungen wurden niedergebrannt. Das Massaker war am Nachmittag noch nicht beendet: Überlebende, die als Lastträger herhalten mussten, wurden talabwärts nach Valdicastello getrieben. Dort erschossen Kampfeinheiten weitere Menschen, mehr als 200 Gefangene kamen in ein Arbeitseinsatzlager nach Lucca bzw. in ein Lager der Division bei Nozzano, wo viele misshandelt und getötet wurden. Von anderen Verschleppten weiß man, dass sie bei einer Mordaktion in Bardine San Terenzo am 19. August 1944 umgebracht wurden. In den Tagesmeldungen der deutschen Besatzer wird lapidar von einem »Bandenunternehmen« gesprochen, bei dem Munitionslager gesprengt und »270 Banditen« getötet worden seien.

Was sich wirklich abgespielt hat, kann man auf der Homepage des Museo di Sant’Anna di Stazzema in eindringlichen Worten lesen: »Die mörderische Wut der Nazis brach plötzlich und unerbittlich über jede und jeden herein. In den Weilern des kleinen Dorfes, in Vaccareccia, (…) in Moco, Pero und Coletti, blieben nach wenigen Stunden Hunderte Körper zurück, leblos, massakriert, verbrannt, zerfetzt. An jenem Augustmorgen ermordeten sie in Sant’Anna Großeltern und Mütter, sie ermordeten Kinder und Enkel. Die Dorfbewohner ermordeten sie und die vielen Evakuierten, die sich auf der Suche nach einem sicheren Versteck vor dem Krieg hierher geflüchtet hatten. Sie ermordeten Anna, die Jüngste des Dorfes, die gerade 20 Tage vorher zur Welt gekommen war. Evelina haben sie ermordet. Sie lag an diesem Morgen in den Geburtswehen. Ermordet haben sie auch die junge Mutter Genny, die ihren kleinen Mario schützen wollte und dem Nazi, der auf sie schoss, ihren Holzschuh ins Gesicht schleuderte. Sie ermordeten den Priester Innocenzo, als er die Nazis anflehte, seine Leute am Leben zu lassen. Die acht kleinen Kinder der Familie Tucci ermordeten sie gemeinsam mit ihrer Mama. 560 Menschen wurden zur Beute jener mörderischen Wut. Ohne Erbarmen. Schutzlose Menschen, ohne Verantwortung, ohne Schuld. Und dann kam das Feuer. Sie verbrannten die Körper, die Häuser, den Hausrat, die Ställe und Haustiere.«

Eindringlicher als in diesem Text kann man nur schwerlich die Dimension des Massakers beschreiben, dem mehr als 500 Menschen – Frauen, Kinder und Alte – zum Opfer fielen. Das Museum in Sant’Anna di Stazzema geht übrigens auf das Engagement von Enio Mancini zurück, der als Sechsjähriger mit seiner Familie das Massaker überlebte, weil ein deutscher Soldat in die Luft geschossen hatte. Enio Mancini hat jahrelang Berichte von Überlebenden und Erinnerungsstücke gesammelt, die seit 1991 im ehemaligen Schulgebäude gezeigt werden.

»Schrank der Schande«

Während die historische Aufarbeitung Klarheit über das Verbrechen gebracht hat, blieb das Massaker im eigentlichen Sinne juristisch ungesühnt. 1947 fand vor einem britischen Militärgericht in Padua ein Prozess gegen SS-Gruppenführer Max Simon statt. Er wurde zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt. Bereits 1954 befand er sich wieder auf freiem Fuß in Deutschland. 1951 folgte ein Prozess in Bologna gegen den SS-Sturmbannführer Walter Reder. Er wurde wegen zahlloser Verbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt, eine Tatbeteiligung an dem Massaker von Sant’Anna konnte ihm das Gericht damals jedoch nicht nachweisen.

Zeitgleich begannen Ermittlungen der italienischen Militärjustiz, die jedoch – aus erkennbar politischen Gründen – im Jahre 1960 vorläufig eingestellt wurden. Die Akten verschwanden im »Schrank der Schande«, der erst mehr als 30 Jahre später von dem Militärankläger Marco De Paolis (siehe Kasten) geöffnet wurde. Die Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft führten zu einem Verfahren in Abwesenheit der Angeklagten. Im April 2004 eröffnete das Tribunale militare di La Spezia einen Prozess gegen mehrere noch in Deutschland lebende Täter. Am 22. Juni 2005 wurden zehn SS-Angehörige zu lebenslanger Haft sowie Entschädigungszahlungen in Höhe von etwa 100 Millionen Euro verurteilt. Die Urteile wurden 2006 vom Militärberufungsgericht in Rom und 2007 vom Kassationsgerichtshof bestätigt.

Konsequenzen für die Beschuldigten hatte das jedoch nicht, weil sich die BRD weigerte, deutsche Staatsangehörige nach Italien auszuliefern. Außerdem blieben Anträge auf Vollstreckung des Urteils in Deutschland unbearbeitet. Angesichts des Prozesses in Italien ermittelte seit 2002 auch die Staatsanwaltschaft in Stuttgart, stellte das Verfahren jedoch offiziell 2012 ergebnislos ein. Anschließend versuchten Enrico Pieri, Vorsitzender der Associazione Martiri di Sant’Anna di Stazzema, und die deutsche Rechtsanwältin Gabriele Heinecke auf dem Wege eines Klageerzwingungsverfahrens einen Prozess durchzusetzen, das 2014 endgültig abgewiesen wurde. Zudem strengten sie ein weiteres Verfahren gegen Gerhard Sommer an. Aber auch diese Klage wurde 2015 wegen »dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten«, diesmal von der Staatsanwaltschaft Hamburg, abgewiesen.

Was bleibt, ist die geschichtspolitische Aufarbeitung, ein Dokumentarfilm aus dem Jahre 2014 von Jürgen Weber mit dem Titel »Das zweite Trauma – das ungesühnte Massaker von Sant’Anna di Stazzema« oder der Sammelband »Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema mit den Erinnerungen von Enio Mancini«, der 2014 erschien. Angesichts dieses Umgangs der deutschen Justiz und Politik mit den Massenverbrechen in Italien konnte nicht überraschen, dass im Frühjahr 2024 anlässlich der Gedenkveranstaltung zum Massaker in den Ardeatinischen Höhlen die deutsche Außenministerin zwar anwesend sein durfte, aber keine Gelegenheit für eine folgenlose »Entschuldigungsansprache« erhielt.

Marco De Paolis: Die unermüdliche Suche nach der Wahrheit

Dass es im Falle von Sant’Anna di Stazzema überhaupt zu einer juristischen Aufarbeitung kam, war auch dem Militärstaatsanwalt Marco De Paolis zu verdanken. Nachdem er viele Jahre als Richter am Militärgericht von La Spezia tätig war, entdeckte er im Jahr 1994 den sogenannten Schrank der Schande, einen verschlossenen Schrank, der am Sitz der Militärgerichte in Rom mit den Türen zur Wand stand. Als er diesen Schrank öffnen ließ, fanden sich mehr als 200 Dossiers zu Herbert Kappler, Walter Reder, Max Simon, Gerhard Sommer und Friedrich Engel, dem Chef der SS in Genua, sowie vielen anderen faschistischen Verbrechern. Knapp 700 Akten belegten die Verbrechen der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg.

Akribisch begann De Paolis die vergilbten und fast unleserlichen Akten zu untersuchen, die oft mit der Hand geschrieben oder mit einer alten Schreibmaschine getippt waren. Jahre recherchierte er. Sein Ziel war es, die Verantwortlichen für die Massaker vor ein Militärgericht zu bringen.

Certosa di Farneta, Sant’Anna di Stazzema, Marzabotto, Civitella, Cortona, San Tomè, San Polo d’­Arezzo, San Cesario sul Panaro, San Terenzo Monti, Vinca, Cefalonia – zu all diesen Orten galt es, die Erinnerung wachzuhalten und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Marco De Paolis hat sich dazu vielfach mit Überlebenden getroffen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Für seine unermüdliche Suche nach der Wahrheit und für seinen Respekt vor dem Leid der Opfer der Naziverbrechen wurde Marco De Paolis 2016 von der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) mit dem Michel-Vanderborght-Preis geehrt.

Ulrich Schneider

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph D. aus Gotha (10. August 2024 um 11:47 Uhr)
    Ulrich Schneider gebührt Dank, dass er an das ungesühnte und so unvorstellbar grausame Verbrechen erinnert hat. Die mangelnde juristische Aufarbeitung ist eine Schande und auch für die bundesdeutsche Justiz – wie so oft bei der Verfolgung von Nazigewaltverbrechen – kein Ruhmesblatt. Bewältigung der Vergangenheit muss sowohl auf historischer als auch juristischer Ebene erfolgen, sonst bleibt sie halbherzig und nicht überzeugend. Ralph Dobrawa, Gotha

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