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Aus: Ausgabe vom 10.08.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Ballett

Einer der anstrengendsten Berufe

Vier Jahre nach dem Skandal: Die Staatliche Ballettschule Berlin versucht, im internationalen Gefüge wieder Fuß zu fassen
Von Gisela Sonnenburg
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Giuseppe Iodice kommt aus Italien. Er lernte in Berlin und wird seine Karriere als Profi in Regensburg beginnen

Da hinten links steht eine junge Frau. Ihr Herz klopft schnell, denn sie strengt sich an, um das gestreckte Bein elegant hochzuwerfen. Noch höher. So hoch, bis es aussieht, als führe dieses schöne Bein ein Eigenleben. Und dann, als die Schwerkraft schon glaubt, sie könne einen Sieg erringen, neigt sich dieses Bein ganz langsam gen Boden. Als die Fußspitze unten aufsetzt, entfaltet sich Anmut pur. Sie ist das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit. Täglicher Arbeit. Ehrlicher Arbeit. Das Gesicht zum Bein wirkt dabei glücklich, fast entspannt, geradezu hingebungsvoll. Denn Nina Nashiki ist Ballerina. Sie trainiert, als ich sie beobachte, für ihr Examen. Wir befinden uns im großen Saal der Staatlichen Ballettschule Berlin, kurz die »Staatliche« genannt, und Ninas Lehrerin Doreen Windolf wurde einst selbst an dieser Schule zur Tänzerin ausgebildet.

»Seit Wochen üben wir das Exercise, das zur Prüfung gehört«, erklärt Windolf, die nicht nur lehrt, sondern auch die kommissarische Leiterin des Fachbereichs Bühnentanz ist. Diesen Posten hat sie ohne zusätzliches Entgelt übernommen. Der Berliner Senat, der dafür die Verantwortung trägt, findet das in Ordnung. In der Jury, die dann die Prüfung von Nina abnimmt, wird sich nur eine Lehrkraft der »Staatlichen« befinden. Auch das findet der Berliner Senat okay.

Außer Unterricht in verschiedenen Tanztechniken gibt es an der »Staatlichen« theoretische Fächer. Und sogar die Möglichkeit, das Abitur zu machen. Leider verzichten angehende Profitänzer meistens aufs Abi, sie konzentrieren sich auf die Formung und Schulung des Körpers: als Voraussetzung für einen der anstrengendsten Berufe, die es gibt.

»Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik Berlin« – so lautet der vollständige Schulname. Er zeigt an, dass hier auch eine kleine Ausbildungsstätte für Akrobaten beherbergt ist. Berühmt-berüchtigt ist jedoch die Ballettabteilung. 2020 gab es einen von einer Exlehrerin ausgelösten Skandal, der Vorwürfe von Machtmissbrauch und Kindeswohlgefährdung beinhaltete. Seither hat die »Staatliche« es schwer.

Jüngere Schlagzeilen prangern zudem an, dass die Schulleiterin Martina Räther die Gala der Schule, die für Mai 2024 in der Deutschen Oper in Berlin angesetzt war, ersatzlos absagte. Räther begründete das mit Problemen in der Organisation. Nach außen entstand jedoch der falsche Eindruck, die Schule sei nicht leistungsfähig genug, um das Event mit Schülern aller Klassen zu stemmen. Immerhin traten einige Mädchen aus der Abschlussklasse mit dem Staatsballett Berlin in dessen romantischem Kassenknüller »Giselle« auf – in der Staatsoper Unter den Linden. Das Stück spielt im zweiten Akt bei Mondschein im Wald, wo weibliche Tüllgestalten, sogenannte Wilis, in wehenden Röcken über die Bühne hüpfen. Für die Jungballerinen war es eine prägende Erfahrung, synchron mit 25 anderen zur Livemusik aufzutanzen.

Auf Schloss Rheinsberg in Brandenburg gab es einen weiteren Schulauftritt – Open Air: mit dem Stück »Mare Crisium« (»Meer der Entscheidungen«) von Arshak Ghalumyan, ehemals Tänzer des Staatsballetts Berlin. Die Stimmung war gut, das Wetter spielte mit, die Mücken hielten sich zurück. Auch dieser Ausflug in die Bühnenwirklichkeit war ein Erfolg. Wie auch die Teilnahme der »Staatlichen« am Wettbewerb »Ballet Grand Prix Vienna« im Juli in Wien.

Vladimir Malakhov, Exintendant vom Staatsballett Berlin, leitete den Wettbewerb. Seine Verbindungen könnten Berufsanfängern bei der Stellensuche helfen. Auch Dinu Tamazlacaru, Exstar vom Staatsballett Berlin und heute Pädagoge an der »Staatlichen«, hat diese Aufgabe. »Wir strengen uns an, damit die jungen Tänzerinnen und Tänzer, die hier lernen, was Bühnentanz ist, da draußen auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben«, sagt Doreen Windolf. Sie ist unermüdlich darin, die »Staatliche«, die 1951 gegründet wurde, zu verteidigen.

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Nina Nashiki von der Staatlichen Ballettschule Berlin schaffte es bis zum Vortanzen an der Pariser Oper

Seit 2010 residiert die Schule in einem schicken Neubau, der international bewundert wird. Dass die Decken nicht genügend schalldicht sind und die Tanzsäle sich im Sommer schnell aufheizen, ist weniger bekannt. Teuer ist hier auch nicht das Gebäudemanagement, sondern der Überhang an Lehrkräften, denen der Senat nicht kündigen kann oder mag. So beziehen die ehemaligen Leitungspersönlichkeiten Ralf Stabel und Gregor ­Seyffert, wiewohl seit Februar 2020 freigestellt, nach einigen gewonnenen Gerichtsverfahren weiterhin ihre Gehälter. Ihre Kündigungen waren nicht fristgerecht, und ihnen Versäumnisse nachzuweisen, fiel ihren Gegnern schwer.

Derzeit sind an der Schule einundzwanzig Tanzlehrer beschäftigt. Ziemlich viele für Ballettmaßstäbe. Gegen einige gab es im Zuge des Skandals konkrete Tatvorwürfe wegen Kindeswohlgefährdung. Doch es gab keine entsprechenden Strafrechtsverfahren. Für die Aufarbeitung der Missstände heuerte der Senat Psychologen an, die – wie Martina Räther, die früher eine stinknormale Berufsfachschule leitete – mit Ballett zuvor gar nichts zu tun hatten. Über die Feststellung, es habe an der Schule ein »Klima der Angst« geherrscht, kam man denn auch kaum hinaus. Aber Berlins Regierende hatten damals große Lust auf einen Skandal, der ausnahmsweise nicht sie selbst betraf.

Doreen Windolf hat jedenfalls einen fest umrissenen Auftrag: Sie will die Anforderungen des professionellen Balletts mit dem Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche vereinen. Auf Anzeichen von Essstörungen wird darum besonders geachtet. Magersucht, eine im Ballett nicht ganz seltene Erscheinung, wird hier nicht mehr übersehen. Die Toleranz gegenüber »molligen« Mädchen hingegen steigt: Schülerinnen, die an anderen Schulen wegen ihres relativ hohen Gewichts die Profiausbildung zur Balletttänzerin verlassen müssten, können hier ihren Abschluss machen.

Die Vorgabe, dass das Instrument des Tanzes, also der menschliche Körper, möglichst schlank sein muss, damit auf der Bühne eine maximal leichtfüßig-ästhetische Wirkung erzielt wird, ist an der »Staatlichen« derzeit außer Kraft gesetzt. Das Ballettideal außerhalb der Schule orientiert sich allerdings weiterhin an der Modeindustrie.

»Skinniness«, Magerkeit, lautet draußen das Diktat. Dabei ist mager nicht immer schön und auch nicht immer richtig. Auf Ausstrahlung und Ausdruck wird in Deutschland oft viel zuwenig geachtet. Das Fach »Kulturgeschichte«, das den Tanz in die anderen Künste und in die Geschichte der Zivilisation einreihen könnte, fehlt in den heutigen Profitanzausbildungen sowieso. Die letzte Pionierin, die hier einen Schritt vorwärts wagte, war Gret Palucca in der DDR. Sie starb 1993. Seither entwickelt sich das Ballett immer mehr in Richtung Sport. Schon gibt es Forderungen, Ballett zur olympischen Disziplin zu machen.

So obsiegen bei der Schülerauswahl anatomische Kriterien. Dünn, biegsam, nicht zu groß, nicht zu klein, extrem belastbar: Nachwuchsballerinen solchen Zuschnitts sind erwünscht. In Windolfs Abschlussjahrgang 2024 gab es davon sieben. Dazu kamen zwei Jungs und zwei gute Esserinnen, die, wenn sie nicht abnehmen, kaum Chancen auf einen Job im klassischen Tanz haben. Im Contemporary Dance sieht es anders aus: Dort tummeln sich gerade in Deutschland viele, die weder schön noch schlank sind.

Ballett aber ist »Schönheit, um die Welt zu retten«, so formulierte es die legendäre Ballerina Natalja Makarowa. Der Kampf um viele Pirouetten, um hohe Sprünge und sanfte Landungen bezeichnet nur die technischen Leistungen. Zur Kunst wird Ballett, wenn die Bewegungen mit Sinn gefüllt sind. Die Pädagogen Martin Puttke und Ursula Leesch, die die »Staatliche« in den 1980er und 90er Jahren zu ihren größten Erfolgen führten, legten darauf viel Wert. Ihre Schüler gewannen Wettbewerbe, manche wurden Weltstars. Wie Gregor Seyffert, der geschasste Leiter des aufgelösten Landesjugendballetts Berlin.

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Doreen Windolf, kommissarische Leiterin der Abteilung Bühnentanz an der »Staatlichen«, arbeitet mit der Absolventin Antea Parodi an einem Solo aus »La Bayadère«

Früher hatten die Berliner Ballettschüler Grundkenntnisse in Stilkunde, Musik- und Theatergeschichte. Heute ist man froh, wenn junge Leute in Berlin, die Tänzer werden wollen, wissen, wer Peter Tschaikowski war und welche Ballette er komponierte: »Schwanensee«, »Der Nussknacker«, »Dornröschen«. Die Schützlinge von Doreen Windolf wissen das. Alle elf haben zudem soeben ihr Examen bestanden, auf den Jahrgangsfotos lächeln sie erleichtert. Aber sie sind die letzten Berliner »Ballettis«, die sich mit dem Bachelortitel schmücken dürfen. Denn der Berliner Senat hat beschlossen, dass man die Tanzstudenten künftig wieder Schüler nennen soll. Wie früher, vor dem Skandal. Eine richtige Entscheidung, wenn man die Prioritäten der Ausbildung besieht: Wissenschaftlich zu arbeiten gehört weniger dazu.

Der letzte Bachelorjahrgang war mit elf Seelen ziemlich klein. Mittlerweile haben sich die Bewerberzahlen erholt. Eine Zeitlang sah es nur so aus, als habe sich die staatliche Ballettausbildung in Berlin durch den Skandal erledigt. Die Neufindung der Schule ist noch erschwert. Das Kollegium hätte Veränderungen verdient: Man braucht neue, gute Kräfte. Durch den frühen Tod von Olaf Höfer, der ein versierter »Prinzenmacher« war, verlor man kürzlich zudem einen Meister.

Mit der neuen Toleranz gegenüber Molligen ist es nicht getan. Ernährungslehre allein macht keine Stars. Und die Konkurrenz schläft nicht. Mehr als 500 Anwärterinnen und Anwärter, zumeist aus dem Ausland, bewerben sich auf wenige freie Stellen an einem deutschen Stadttheater. Denn nach Deutschland kommen Tänzer gern. Die Gehälter hier sind ganz gut, die sozialen Leistungen mehr als akzeptabel. Auch Gruppentänzer können in Deutschland mit staatlicher Hilfe eine Familie mit mehreren Kindern gründen. Im Krankheitsfall und bei Verletzungen, die in der Hochleistungskunst Ballett vorkommen, wird zumeist geholfen. Auch für die »Transition«, den Übergang in ein neues Berufsleben, gibt es Unterstützung. Außer einer Umschulung bezahlt der Staat die üblichen zwei Jahre Arbeitslosengeld. Das ist in anderen Ländern so nicht zu bekommen.

In Tokio, wohin mit Saaya Iwata eine von Windolfs Absolventinnen übersiedelt, um im Engagement zu tanzen, ist es so: In den Sommermonaten, in denen die Theater pausieren, wird Tänzern einfach nichts gezahlt. Auch in den USA drohen Gruppentänzern soziale Härten, wenn sie mal nicht gebraucht werden. Nur die Pariser Oper bietet den Service einer Tänzerrente ab 42 Jahren, wie es sie übrigens auch in der DDR gab.

Nina Nashiki, deren schöne Tanzenergie ich eingangs beschrieben habe, und Giuseppe Iodice, ein begabter männlicher Absolvent, haben es bis zum Vortanzen an die Pariser Oper geschafft. Gegen die Konkurrenz dort kamen sie zwar nicht an. Aber es war gut für die beiden, dort mal mitgemischt zu haben. Giuseppe wird seine Karriere nun statt in Paris im bayerischen Regensburg beginnen. »So ist das eben: Ich fange klein an, aber ich werde mich entwickeln und weiterkommen«, sagt er. Glück für ihn: Unter den Jungs – man sagt »Jungs« im Ballett – ist die Konkurrenz etwas weniger hart.

Eine Kommilitonin von Nina und Giuseppe, Karen Malatesta, hat dennoch einen Projektvertrag beim renommierten Ballett Dortmund ergattert. Sie wird den Corps, das Ensemble, in »Schwanensee« verstärken. Und weiter ein festes Engagement suchen. Reisen, um vorzutanzen – das gehört für viele Profitänzer zum Beruf. Ihre Verträge laufen oft nur ein Jahr. In Deutschland werden sie mindestens ein Jahr vor Ablauf gekündigt. So haben sie Zeit, einen neuen Job zu suchen. Manche frisch Ausgebildeten bleiben dennoch auf der Strecke. Sie kehren nach einer Jugend im Ballettinternat zu ihren Familien zurück. Ihr Können bleibt erst mal ungenutzt.

Doreen Windolf wünscht sich, dass deutsche Theater dazu verpflichtet werden, in Deutschland ausgebildete Tänzer zu engagieren. Was schon aus rechtlichen Gründen schwierig ist. Aus Windolfs Sicht aber wäre das eine Win-win-Situation, denn schließlich hat der Steuerzahler die Ausbildung der jungen Künstler bezahlt. In anderen Ländern sind selbst Stipendien für »Balletteltern« noch teuer. Die Ausbildung an der »Staatlichen« ist hingegen beinahe kostenfrei. Ihr Ruf muss jetzt genesen, dann haben die Absolventen auch wieder eine reelle Chance. Man hofft auf die Gala im kommenden Jahr.

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