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Aus: Ausgabe vom 10.08.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Den Opfern der demokratischen Willkür

Von René Hamann
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Später überschritten wir die Grenze. Wir sahen die Grenze von oben, von einer Wolke aus erblickten wir Schranken und Kanonen, Häuschen und Flaggen, die hübschen Mützen der Zöllner mit dem roten Stoff und den schwarzen Krempen. Und sich ins Unendliche ziehend, die Sperranlagen: eingezäunte Mauern, diese Beschreibung sollte genügen, gekrönt und umzingelt von Stacheldraht.

Es war die Grenze zwischen Alaska und Kanada, ich war noch nie in Kanada, in den USA genauso wenig. Kanada war, von oben aus betrachtet, eine Wiese. Kanada bestand aus einer einzigen grünen Wiese, und wir schwebten auf unserer Wolke über die Grenze, reisten ins Land ein und versuchten in der nächstbesten Großstadt etwas mit Liebe und Artikeln und warteten gespannt auf die Nachhut, auf die anderen, die noch kommen wollten, ins grüne Kanada.

Real sind es unwirkliche Stadtlandschaften, durch die wir gehen, allein oder Hand in Hand, meist aber allein. Geschlossene Baulücken, angelegte Parks. Die Mauern überdauern. Ich mache Türme aus. Schultürme, hohe Zäune, jugendliche Fußballspieler in der Mitte einer Enklave, im Flutlicht. Sie spielen ohne Abseitsregel, sie spielen ohne Einwurf, sie wirbeln Staub auf. In einem eingezäunten Gebiet braucht es mindestens eine Hintertür. Die Gegend, durch die ich ziehe, ist grau und aufgeräumt, der Sportpark vor Jahren angelegt, hier habe ich auch meine Runden gezogen, damals. Seltsam, wie entfernt die Zeit ist, die Gegend, in der ich drei Jahre gelebt habe, die ich durchwandert bin, die ich beschrieben habe. Seit kurzem bin ich wieder öfter hier; mir gefällt das Viertel, aus dem ich weggezogen bin, von neuem. Fast, als ob ich nie weggezogen wäre. Ein Teil des Gehsteigs wurde ausgebessert, nämlich der vor und gegenüber den neuen Gebäuden. Vor den Ruinen ist der Gehsteig ruinös, durchlöchert, wahllos bepflastert.

Es beginnt zu schneien.

Exil im Schattenreich. Vielleicht muss ich hier nach Eurydike suchen. Ich gehe spazieren, ich sehe die Türme des Schattenreichs, die da stehen wie untergegangen, unterirdische Türme, alles scheint unter Wasser zu sein, dabei schneit es. Eurydike nirgends, nur Erlösungsphantasien, die nichts bringen. Exil im Schattenreich: Schlimm, wenn man sich fehlplaziert fühlt, zum Beispiel auf einem Wohnzimmerteppich, aber nirgendwo anders hin kann. Ich kenne eine Wohnung im Schattenreich. Ich habe selbst eine Wohnung im Schattenreich, nur auf der anderen Seite der Grenze. Ich habe eine halbwegs feste, regelmäßige Arbeit. Ich habe Freunde hier. Ich habe es mir eingerichtet. Ich, ich, ich. Ich halte inne, als neben mir eine Limousine hält, und eine weibliche Person gleichzeitig aus der nächsten Haustür kommt. Eine Frau mit Perücke, im Blumenkleid, mit dicken Kniestrümpfen, vielleicht Anfang 40. Sie sieht winterfest aus, stöckelt auf die Stretchlimo zu, wirft mir einen undefinierbaren Blick zu. Dann nickt sie in Richtung der offenen Wagentür und steigt ohne Lächeln ein.

Wenig später betrete ich eine Wohnung, in der alles an seinem Platz ist. Die Dinge, die Gegenstände, die Einrichtung, die Möbel. Eine konspirative Wohnung mit dem Flair einer Zahnarztpraxis. Steril, aufgeräumt, mit künstlichem Geruch. Im Badezimmer eine lügende Waage, die zwei Kilo zuwenig angibt, in der Küche ein Ofen mit Digitalanzeige. Eine intelligente Spülmaschine. Ein älteres Fernsehgerät mit Blumentopf auf dem Kopf. Alles wirkt wohlplaziert, ausgesucht, geschickt drapiert. Die einzige Irritation geht von einem Rahmen aus, dem das Bild oder das Spiegelglas fehlt. Es bleibt ein in der Luft hängender Rahmen. Und die Handtaschensammlung, die einen eigenen Raum einnimmt. Handtaschen in der Größe von Strandtaschen, kathe­dralisch große Handtaschen, Taschen wie von IKEA, nur feiner, ausgesuchter, exquisiter. Zwei Hände empfangen mich, eine schwarzgekleidete Frau gähnt mir ins Gesicht. Später steht sie über mir, während ich ihr von unten die Waden streichele. Feste, schöne Waden. Neben mir kleben weiße Hundehaare auf dem Teppich. »Ich bin die, die Sie suchen«, sagt die schwarzgekleidete Frau mit Sekretärinnenstimme über mir. Ich bin mir da nicht so sicher. Kurz darauf werde ich ausgezogen.

Wir liegen und schweigen, nackt. Ich schaue aus dem fremden Wohnzimmerfenster auf die Dächer und denke: Man muss alles mitnehmen, was man kriegen kann. Wer weiß, wie lange das geht. Nach einer guten halben Stunde habe ich genug und stehe auf. Ich ziehe mich an, verlasse Wohnung und Frau, Frau und Wohnung. Die Straßen um das Haus herum sind menschenleer. Ich höre nur das ferne Rattern der Straßenbahn. Ich laufe meiner freien, schneeweißen Zukunft entgegen in diesem stillen Bezirk, der mittig liegende Platz liegt unter Schnee, vereinzelte Taxis schnurren wie müde Insekten durch die Gleitbahnen, die zu erkennen sind. Es ist schön. Ja, es ist schön, ich verschwinde in den Untergrund, wo die übliche Unterwelt …

Flugzeuge hinter Gittern.

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Als ich auf einer Brücke stehe, im winterlich schwachen Sonnenlicht, ruft mein Vater an. Das Wasser im Fluss sieht leichenblass aus. Schwarz und schmutzig. Wie verwest. Während eine ältere Joggerin mit angeleintem, flinkem Hund vorbeijapst, erzählt Vater, dass ihm sein Exschwager verboten hat, seine ehemalige Schwiegermutter anzurufen, meine Oma, weil sie zu zerstreut sei und die beiden andauernd miteinander verwechselt. Sie heißen beide Peter. In seiner Jugend, erzählt er zusammenhanglos weiter, habe er mit dem befreundeten Sohn eines Bestatters Gräber ausgehoben, für zehn Mark das Grab. Was damals eine Menge Geld war, in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die gefundenen Wertgegenstände – Eheringe, Goldzähne, Schmuck (die Geschichte mit dem Hund des Bestattersohns, der immer mit den gefundenen Knochen weglief, lasse ich aus) – mussten zurückgegeben werden, sie waren in Kirchenbesitz übergegangen. Gehörten der Kirche, nicht mehr den Familien, betonte mein Vater am Telefon. Mit Empörung in der Stimme.

Auf dem weiteren Weg folge ich einer Frau: Wir haben dieselbe Richtung. Irgendwann erkenne ich, dass ich mich verlaufen haben muss. Ich drehe mich um wie auf Google Streetview, um mich zu orientieren. Die Frau verschwindet und taucht wenig später wieder an einem anderen Ort auf. FOLLOW YOUR NATURE, steht auf einem Schaufenster. Ein Blinder, der es eilig hat. Eine Frau, die durch den Tag stapft, als wenn meterhoch Schnee läge. Die jungen Leute tragen auch wieder Risse in den Hosen, auf Kniehöhe. Sie schlurfen über Marmorböden und Sandsteinfassaden.

In der Bahn nach Hause beobachte ich einen »Tintling«, eine tätowierte junge Frau mit Brille, die Strumpfhosen über ihre Zeichen gezogen hat. Ich erkenne sie trotzdem: ein Fisch, der sich in einen alten Mann mit Bart verwandelt (oder umgekehrt). Ein Fischmann. Neben mir liest ein Mann Anna Seghers’ Roman »Transit«.

Der Tod. Eine Moribunde hat einen Wutanfall: »Wenn dieses Lied nicht auf meiner Beerdigung gespielt wird, sterbe ich nicht!« Später erhalte ich die Einladung zu ihrer Beerdigung. Bisher war ich stets allein auf Begräbnissen gewesen. Ich bin zum ersten Mal auf deiner Beerdigung, denke ich dann auf der Beerdigung, auf der alle ordentlich schwarz tragen. Ich auch. Das Lied, das sie sich gewünscht hatte, wurde nicht gespielt. Es gab nicht einmal ein Orchester. Oder eine Blaskapelle.

Die Rechtsmedizin, erzählt die Rechtsmedizinerin beim Leichenschmaus, kann sich vor Bewerbenden kaum retten. Sie nennen es den CSI-Effekt.

Baumelnde Handtaschen. Bäume voll damit. Exil im Schattenreich. Die Liebe, die Grenzen. Neue Strap-ons. Tagelang liege ich unbemerkt in meiner Wohnung. In der eigenen Feierhalle. Solarisiert im Fixierbad, in Inkunabeln. Ich koche vor Wut. Ich bin unfassbar schlecht gelaunt. Es geht darum, lese ich, seine Komfortzone zu verlassen. Etwas zu wagen. Ein Konquistador zu sein, auch wenn die unterstützende Liebe fehlt. Hieße das also, ich muss über die Grenze ins Vaterland? In den Steinbruch? Ins Reich der Arbeit?

Also, was ich brauche, sind vier irische Rugbyspieler. Kompakte Männer in grün-weiß gestreiften Trikots, die die Zollstation stürmen, nachdem mir die versehrten Zöllner ihre Deformationen gezeigt hatten und ich mich nicht verständlich machen konnte. Mein Französisch war mal wieder zu schlecht.

Ich bin zurück im Schattenreich, sie nennen es Europa. Europa aber zerfällt. Italien schrumpft, Frankreich verschwindet, Spanien treibt ab. Portugal ist eine Insel. Griechenland ist unendlich viele Inseln, zerfallen, ohne Festland. Slowenien existiert, Slowenien ist ein Berg. Kroatien ist so groß wie Serbien wie all der Rest. Österreich ist riesig, aber schmal. Eng. Eng wie New York. Amerika ist ein anderer Planet und Kanada ein Irrtum.

René Hamann, geboren 1971 in Solingen, lebt in Berlin. Er ist Schriftsteller und Journalist. Von 2011 bis 2013 war er Literaturredakteur dieser Zeitung.

An dieser Stelle erschien von ihm zuletzt in der Ausgabe vom 24./25. Februar 2024 die Kurzgeschichte »Angst und Zucker«

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