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Aus: Ausgabe vom 12.08.2024, Seite 6 / Ausland
Konflikt um Kurdistan

Kultureller Völkermord

Türkei: Behörden erhöhen Druck auf Kurden. Jugendliche und Künstler wegen Liedern und Tänzen verhaftet
Von Hamdiye Çiftçi Öksüz
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Das Newrozfest lassen sich die Kurden nicht verbieten, erst recht nicht in der Türkei (Diyarbakır, 21.3.2023)

Die Türkei führt nicht allein Krieg gegen die Kurden im Norden Syriens und Iraks, wo die jüngst begonnene Offensive gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der vergangenen Woche noch einmal verstärkt wurde. Auch in der Türkei selbst hat sich der Druck auf Kurden und ihre Kultur erhöht. Jugendliche und Künstler werden nur deswegen verhaftet, weil sie kurdische Lieder vortragen oder traditionelle Tänze aufführen. Der Anwalt Cemal Demir erklärte dazu gegenüber jW: »Es gibt zahlreiche Hinweise, dass diese Repressionen gegen Kurden und ihre Kultur, die ein unverzichtbarer Teil ihrer Identität ist, zentral gesteuert werden. Die Angriffswelle, die in Mersin begann und sich in Diyarbakır, Istanbul, Ağrı und vielen anderen Orten fortgesetzt hat, ist nicht nur rechtswidrig, sondern auch menschenunwürdig, primitiv und rückständig. Kurden und ihre Unterstützer müssen dagegen überall und in allen Bereichen scharf protestieren.«

Demir sieht dabei die Politik der rechtskonservativen Regierungspartei AKP und ihres ultrarechten Koalitionspartners MHP in einer unheilvollen Tradition, die in die Anfangszeit der Türkischen Republik zurückreicht: »Ähnliche Maßnahmen gegen Kurden gab es bereits unter den Regimen der 1930er Jahre. Aus einer universell menschenrechtlichen Perspektive heraus handelt es sich dabei nicht nur um schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, sondern um Verbrechen gegen die Menschheit. Alles läuft auf den Versuch eines kulturellen Völkermords hinaus.«

Dabei betont Demir: »Die Türkei hat diverse internationale Abkommen ratifiziert, die kulturelle Rechte garantieren. Das rückständige und völkerrechtswidrige Vorgehen der türkischen Regierung steht im Widerspruch zu diesen internationalen Verträgen, die durch ihre Veröffentlichung im türkischen Amtsblatt Teil des innerstaatlichen Rechts geworden sind. Das 2000 unterzeichnete und drei Jahre später ratifizierte ›Internationale Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte‹ der UNO enthält zum Beispiel in dieser Hinsicht wichtige Verpflichtungen. Die (gegen die Kurden getroffenen; jW) Maßnahmen verstoßen vollständig gegen diesen internationalen Vertrag. Kein Staatsbeamter und keine Behörde darf im Widerspruch zu dieser Rechtslage handeln und die Kultur der Kurden kriminalisieren.«

Yılmaz Hun ist ein Abgeordneter der Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM Partei) aus Iğdır ganz im Osten der Türkei. Er argumentierte gegenüber jW in gleicher Richtung: »Traditionelle Tänze sind ein kulturelles Erbe des kurdischen Volkes, das Tausende Jahre zurückreicht. Ein Verbot ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Es ist Kolonialrecht.« Hun betont: »In der Türkei (mit ihren insgesamt 85 Millionen Einwohnern; jW) leben etwa 20 Millionen, weltweit etwa 50 Millionen Kurden. Aber die kurdischen Gebiete werden durch Umsiedlungsprogramme entvölkert und ihre Natur zerstört. Kurden, die sich gegen die kulturelle Assimilation wehren, werden bedroht. Die Angriffe auf sie sind vielschichtig. Das kulturelle Erbe, die Identität und das Gedächtnis der Kurden sollen ausgelöscht werden, die Assimilation vollendet werden. Die Angriffe auf Kurden und der Druck der Sicherheitskräfte sind das Ergebnis dieser Politik.«

Huns DEM Partei, die von Ankara konsequent an den Rand gedrängt wurde, bestätigte die lange Traditionslinie der gegenwärtigen AKP-Politik und rief ihrerseits zu Protest und Widerstand auf: »Die Angriffe sind nicht neu, es handelt sich um eine 100jährige Politik der Zerstörung und Assimilation. Die ›kurdische Frage‹ kann mit einer solchen Vorgehensweise nicht gelöst werden, sondern nur durch die Anerkennung der Kurden als Volk und durch Dialog und Verhandlungen. Bis dahin hat das kurdische Volk keine andere Wahl, als seine Rechte zu verteidigen und sich gegen diese Angriffe zu schützen.« Angesichts von Bomben auf Kurden im Irak und in Syrien und der gezielten Repressionen in der Türkei selbst stehen die Zeichen also weiter auf Konfrontation.

Hinweis: In einer ersten Fassung des Artikels hieß es, Yılmaz Hun gehöre der Demokratischen Partei an. Der richtige Name der Partei lautet aber Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM). (jW)

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