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Aus: Ausgabe vom 12.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Podcast

Wichtig wie Butterpreise

Lieber Gutes hören: Victor Klemperers Tagebücher als Podcast
Von Norman Philippen
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»Bei Ewert sah ich Gerhart Hauptmann stehen, eine durchaus unerfreuliche Erscheinung« – Victor Klemperer

Neben der Schwemme redundanter Podcasts wie »Lanz & Precht«, »Bosbach und Rach« bis »Gysi gegen Guttenberg« gibt es auch Gutes zu hören. »Die Geschichte geht weiter. Victor Klemperers Tagebücher 1918–1959« etwa. Nicht unbedingt, weil die Historikerin, Journalistin und Moderatorin Leonie Schöler (geboren 1993) als Host und Klemperer (1881–1960) ein dolles Podcastpaar abgeben, sondern weil des jüdischen Literaturwissenschaftlers über vier Jahrzehnte und durch drei politische Systeme druckreif geführte Tagebücher fraglos eine der interessantesten Zeitzeugenquellen zur jüngeren deutschen Geschichte sind.

Die gehören gelesen, mindestens in Auszügen angehört. Dass sich letzteres gut machen lässt, hat zwischen 1996 und 1999 der den Text für das Deutschlandradio gekonnt einlesende Schauspieler Udo Samel besorgt. Auf dieses zwischen Hörbuch und Hörspiel changierende Radiofeature greift Schölers Podcast zurück, der auch deshalb hörenswert ist, weil der Host sich zugunsten der Klemperschen Notate angenehm zurückhält. Sprechen dessen genaue Beobachtungen doch für sich.

Die Aufzeichnungen beginnen nach Ende des Ersten Weltkriegs, in den Klemperer für das Vaterland freiwillig gezogen war, im November 1918 in München und enden 1959 nicht lange vor seinem Tod in Dresden, wo er von 1950 bis 1958 als Abgeordneter des Kulturbundes der DDR Mitglied der Volkskammer gewesen war. In der Weimarer Republik zunächst ohne feste Stelle, schlägt sich Klemperer mit Feuilletons durch, erwägt statt eines Unipostens eine Pressekarriere, träumt davon, Reichstagsmitglied zu werden, derweil seine Frau Eva sich als Pianistin einen Namen macht. »Als … die Depesche von dem wenig legitimen Tode Liebknechts und Rosa Luxemburgs kam, verstärkte sich mir der Eindruck, die jetzige Regierung wird zerrieben werden im Aufeinanderprallen linker Verzweiflung und rechter Erbitterung«, lautet seine frühe Diagnose zur Weimarer Republik. Politisch steht der noch Konservative eher rechts denn links: »Ein bisschen näher als dem linken Extrem, stehe ich dem rechten denn doch«, notiert er im Juni 1919. »Allmählich geht mir auf, welch neuerlich unüberwindbares Hindernis der Antisemitismus für mich bedeutet. Und ich bin Kriegsfreiwilliger gewesen. Nun sitze ich getauft und national zwischen allen Stühlen«, muss er wenige Monate später aber erkennen. Im März 1920 bekennt Klemperer, dass seine »Neigung nach rechts (…) sehr gelitten« hat, »Staatsstreichleute« möchte er aber »an die Wand gestellt« sehen.

Die rechte Neigung korrigiert sich zusehends, schon in Podcastfolge zwei, »Butterpreise sind wichtiger«, gibt er einer Frau, die sich über wegen des Mordes an Walther Rathenau Protestierende echauffiert, eine Antwort, die »deutlich kommunistisch getünscht« gewesen sei. 1925 macht er sich kaum noch Illusionen: »Faschismus überall. Der widerwärtige und gemeine Mord hat mich weit nach links gedrängt. Überall schwebt unsichtbar und fühlbar das Hakenkreuz.« Doch »die Butterpreise sind wichtiger«.

Neben den vielen politischen stehen vermeintlich geringere, sogenannte Alltagsbeobachtungen gleichrangig und nicht minder aufschlussreich in den Tagebüchern. Und es finden sich immer wieder Kostbarkeiten wie diese: »Bei Ewert sah ich Gerhart Hauptmann stehen. Eine durchaus unerfreuliche Erscheinung. Haltung und Gesichtsausdruck eines eitlen Komödianten, feiste Hängebacken, mehr verlebt als vergeistigt. Er muss viel getrunken und gegessen haben in den Jahren des Erfolges.«

Hören Sie mal rein. Oder lesen die Tagebücher. Und danach Klemperers großartige Sprachanalyse zum »Dritten Reich«: »LTI«.

Podcast: »Die Geschichte geht weiter: Victor Klemperers Tagbücher 1918–1959«, 15 Folgen à circa 60 Minuten; www.deutschlandfunkkultur.de

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