Mileis »soziale Kettensäge«
Von Volker HermsdorfMit dem Vorwurf, Argentinien sei »verwundet und schon halb tot«, prangerte der Erzbischof von Buenos Aires, Jorge García Cuerva, bei einer Messe zur Feier des Tages von San Cayetano am vergangenen Mittwoch die neoliberale Politik des ultrarechten Staatschefs Javier Milei an. Dann segnete er Tausende Demonstranten, die an dem von Millionen Gläubigen gefeierten Tag des Schutzpatrons des Brotes und der Arbeit ihren Marsch zur 16 Kilometer entfernten Plaza de Mayo antraten und eine Abkehr von Mileis Politik der »sozialen Kettensäge« forderten.
Traditionell nutzen auch Gewerkschaften, linke Parteien und soziale Organisationen den Namenstag des Heiligen zur Mobilisierung ihrer Anhänger für sozialpolitische Themen. In diesem Jahr nahmen mehr Menschen als zuvor an den Demonstrationen für die Forderung nach Brot, Land, Wohnung und Arbeit teil. Angeführt wurde der Marsch vom peronistischen Allgemeinen Gewerkschaftsbund (CGT), den beiden Flügeln der unabhängigen Central de los Trabajadores Argentinos (CTA-A und CTA-T), sowie mehreren Einzelgewerkschaften. Die Regierung zeigte überall in der Hauptstadt mit zahlreich aufmarschierten Einsatzkräften Präsenz, die sich angesichts der überwältigenden Zahl von Demonstranten jedoch zurückhielten.
Besser war es, denn die Wut ist groß: »In acht Monaten Amtszeit von Milei ist die Armut auf 55 Prozent und die Bedürftigkeit auf mehr als 20 Prozent gestiegen. Das sind nicht nur Zahlen: Es ist die Geschichte jeder Familie, die kein Dach mehr über dem Kopf hat, die kein Brot auf den Tisch bringen kann, die keine Arbeit hat, weil wir von Grausamkeit regiert werden«, heißt es in einer auf der zentralen Plaza de Mayo verlesenen Erklärung. Die Tageszeitung Página 12 bezeichnete es in einem Kommentar als »unerträglich«, dass »von elf Millionen Kindern unter 14 Jahren 7,7 Millionen in armen Haushalten leben und 3,3 Millionen hungern müssen«. Ferner: »Armut und Hunger sind die bittersten Früchte des Projekts der Ultrarechten, aber die Zahlen zeigen die zerstörerische Kraft des Modells, das auch die Industrie zum Absturz bringt, mit schwerwiegenden Folgen für das Leben und die Arbeit«, so die Zeitung. Präsidentensprecher Manuel Adorni wies jede Kritik zurück und versuchte, den Spieß umzudrehen. Die Proteste würden von »politischen Figuren angeführt, die für das wirtschaftliche Desaster verantwortlich sind, das diese Regierung geerbt hat«, erklärte er.
Von Página 12 am Sonntag veröffentlichte Zahlen über »rekordverdächtige Umsatzrückgänge« selbst bei Grundnahrungsmitteln ergeben jedoch ein anderes Bild. Supermärkte klagen über einen Einbruch des Verbrauchs von insgesamt 18 Prozent. Der Verkauf von Rindfleisch ist der geringste seit 100 Jahren. Beim Milchkonsum beträgt der Rückgang 20, beim Bierverkauf 30 Prozent. Der Vizepräsident des Verbandes der Lebensmittelhändler von Buenos Aires, Fernando Savore, stellte fest, dass »am 15. für viele Monatsende ist«. Trotz Rabattaktionen würde nicht mehr verkauft, sondern weniger, und der Umsatz sei »lächerlich niedrig«. Das wenige Geld der Familien fließe in Steuern, Gebühren, Strom und Gas, und die geplante Erhöhung der Bustarife werde sich als fatal erweisen, warnt Savore. »Die wirtschaftliche Depression ist historisch«, so die Zeitung.
Obwohl Milei bislang noch viele Wähler bei der Stange halten konnte, scheint sich das Blatt zu wenden. Vor allem junge Leute, eine Kerngruppe seiner Anhänger, sind unzufrieden. Laut einer Umfrage des Instituts »Circuitos« bei 16- bis 24jährigen, von denen 40 Prozent für Milei gestimmt hatten, bezeichnen neun von zehn die wirtschaftliche Lage des Landes als schlecht, ziemlich oder sehr schlecht.
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