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Aus: Ausgabe vom 13.08.2024, Seite 12 / Thema
Revolutionäre Vita

»Ein riesiges kollektives Herz«

Die Junkerstochter, die Kommunistin wurde. Vor 140 Jahren wurde Meta Kraus-Fessel geboren (Teil 2 und Schluss): Entfremdung und Exil
Von Ingar Solty
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Meta Kraus (da noch nicht verheiratet) in Berlin im Jahr 1906

Die Biographie von Meta Kraus-Fessel, geboren am 6. August 1884, beschreibt den unwahrscheinlichen Lebensweg von der Junkerstochter zur Repräsentantin der revolutionären Arbeiterbewegung. Teil 1, der am vergangenen Dienstag an dieser Stelle erschien, endet mit Meta Kraus-Fessels Kampf um den Barkenhoff, Labor des lebendigen Kommunismus, Zentrum einer proletarischen Pädagogik und Mittelpunkt der Künstlerkolonie Worpswede. (jW)

Der Kampf um das Rote-Hilfe-Kinderheim Barkenhoff endet für Meta Kraus-Fessel 1927 mit einem halben Sieg. Öffentlicher Druck verhindert die Schließung. Ostern 1928 nimmt sie in Leipzig am 5. Weltkongress der Internationale der Bildungsarbeiter teil, die eine Pädagogik für Arbeiterkinder anstrebt. Meta referiert über »Die materielle Lage des proletarischen Kindes«. Die Barkenhoff-Erfahrungen fließen in ihren Vortrag ein. Der »kapitalistische Staat« suche »den Schutz des proletarischen Kindes zu verhindern, wenn er ein Element des proletarischen Befreiungskampfes darstellt«.

Zu ihren genauesten Zuhörern gehören die französischen Reformpädagogen Élise und Célestin Freinet. Meta übt, wie die Tochter Madeleine schreibt, auf beide einen großen politisch-menschlichen Einfluss aus. Ihre Mutter sieht in Meta eine »junge intellektuelle, schöne, deutsche Revolutionärin«. Meta habe »alles« gehabt, »um meine Mutter zu verführen und zu begeistern: Intelligenz, politisches Engagement, Kämpfe, Humor, Großzügigkeit, Leidenschaft. Sie lebte alles mit Leidenschaft. Sie kämpfte für die deutsche Arbeiterbewegung«.

Nach dem Kongress begleitet Élise Meta nach Berlin. Zum Abschied gibt Meta Élise, die damals noch graphische Kunst macht, die Botschaft mit: »Vergiss nie, dass deine höchste Pflicht der proletarischen Kunst gehört.«

Abwendung von der KPD

In diese Zeit fällt nun in der KPD die Hinwendung zur Sozialfaschismusthese. Für die in Luxemburgs Geist sozialisierte Meta beginnt damit die langsame Abwendung von ihrer Partei und eine Annäherung an sowjetkritische kommunistische Positionen und an den Anarchokommunismus. Schon am 15. Oktober 1927 unterzeichnet sie neben dem USPD-Vorsitzenden Theodor Liebknecht, dem marxistischen Rätetheoretiker Karl Korsch, dem Schriftsteller Franz Jung und dem Theologen Martin Buber sowie einigen bekannten Anarchokommunisten wie Erich Mühsam, Rudolf Rocker und Alexander Berkmann ein zum Zehnjahrestag der Oktoberrevolution veröffentlichtes Manifest »An die Sowjetregierung! An das russische werktätige Volk! An das Weltproletariat!« Darin wird zunächst die Oktoberrevolution als die »großartigste proletarische und bäuerliche Erhebung gegen den Kapitalismus« (Mühsam) gepriesen, dies aber verbunden mit der Forderung nach Verwirklichung der ursprünglichen Parole »Alle Macht den Räten« und einer Kritik an Stalins Praxis, Todesurteile gegen weiße Konterrevolutionäre zurückzunehmen, aber dissidente kommunistische Revolutionäre zu verfolgen, weil sie »das Recht der freien Meinungsäußerung in Anspruch nahmen« und »ihren alten Idealen des revolutionären Weltproletariats treu geblieben sind«.

In der Partei gerät Meta, die im Grunde als die einzige prominente KPD-Genossin unterzeichnet, in Konflikt. In einem Brief an Élise Freinet empört sie sich, dass sie als »Konterrevolutionärin« bezeichnet wird und spricht sogar von der »Dummheit der kommunistischen Führer«.

Einer, der ihr beispringt, ist Erich Mühsam. In einem Text in seiner anarchistischen Monatsschrift Fanal kritisiert er, dass die Rote Fahne »über diese Kundgebung mit ein paar schnodderigen Zeilen« hinweggegangen sei, »die Unterzeichner« als »eine feine Gesellschaft, die einander wert sei« verdamme und ihren Lesern vorlüge, »es werde die Amnestierung der menschewistischen Konterrevolutionäre gefordert«.

Meta nähert sich nun diesen Kreisen an. Weihnachten 1928 ist sie dabei, als in Neukölln die Anarchokommunisten zu einer »Aussprache« zusammenkommen, die, so Mühsam, »übereinstimmend der Meinung sind, dass unsere kranke Zeit als Medizin zur Vorbereitung des notwendigen operativen Eingriffs der Revolution (…) freiheitliche Gedanken aufnehmen« müsse. Die »etwa 30 Genossen und Genossinnen« hätten im »Geist guter Kameradschaft trotz verschiedener Auffassungen im einzelnen« gesprochen. Meta scheint das gefallen zu haben. »Als sympathisierender Gast« sei sie erschienen, schreibt Mühsam. Sie habe »die Notwendigkeit für dringend« gehalten, »dass sich alle Klassenkämpfer mit vollem Ernst mit dieser Frage beschäftigen. Die Faschisten werden, kommen sie zur Macht, für die letzten zehn Jahre Abrechnung halten.« Man müsse »auf die Kraft hoffen, die im entscheidenden Moment aus der Masse selber emporwächst«.

Meta ist gekommen, um zu bleiben. Regelmäßig frequentiert sie fortan das Lokal Köhler in der Neuköllner Ziethenstraße 64, der heutigen Werbellinstraße, wo die »Anarchistische Vereinigung« tagt. Am 10. Januar 1929 spricht sie dort zur Frage: »Was geht das Proletariat die Sozialpolitik an?« Unter dem Titel »Arbeiterklasse und Sozialpolitik« erscheint ihre Antwort im Dezember als ihr erster Beitrag im Fanal. Mühsam ist auf den prominenten »Fang« offenbar sehr stolz. Ihre Beiträge sind die einzigen, die auf der Titelseite namentlich gekennzeichnet werden.

In »Arbeiterklasse und Sozialpolitik« reflektiert Meta ihre sozialpolitische Tätigkeit, um eine revolutionäre Linie auszubuchstabieren, die Errungenschaften im Stellungskrieg verteidigt, sich der Kooptation aber widersetzt und auf den Bewegungskrieg zusteuert, um den Kampf ums Ganze zu führen. »Die Leistungen der Sozialpolitik« würden »einen Faktor im kapitalistischen Lohnsystem« bilden, deren der »Arbeiter ebenso wenig entbehren« könne, »wie irgendeinen anderen Teil seines stets unzureichenden Lohnes.« Zugleich würde die »bürgerliche Sozialpolitik das gesellschaftliche Leben der Arbeitermasse – z. B. Erholung, Sport, Berufshygiene, Gesundheitspflege, Kinder- und Krankenpflege usw. – in Formen« zwingen, »die dem Geiste proletarischer Weltanschauung und Solidarität nicht entsprechen, ja diesem vielmehr direkt entgegengesetzt sind, um ihm entgegenzuwirken«. Luxemburg habe »die treffendste Charakterisierung der kapitalistischen Sozialpolitik« geliefert. Wie der Wildschutz des Jagdherrn, so existiere der Arbeiterschutz nur, »um eine profitreichere Ausbeutung (…) zu ermöglichen«. Dies habe auch der Krieg »tausendfach« gezeigt: Die »Kriegsfamilienfürsorge, die Kriegsbeschädigten- und Hinterbliebenenfürsorge« seien nur entstanden, um die Massen »kriegsbereit (zu) machen, kriegswillig (zu) erhalten«.

Kooperation mit Hirschfeld

Meta ist nun schon lange Kämpferin für das »Recht auf freiwillige Mutterschaft«. Bereits 1926 hat sie es in »Strafe auf Schwangerschaftsunterbrechung« in der Neuen Generation verteidigt. Im Dezember 1929 rezensiert sie nun für den Fanal das Buch »Zwangsmutterschaft« der Amerikanerin Margaret Sanger. Eingeleitet ist das Werk von Friedrich Wolf, der im selben Jahr mit seinem am Berliner Lessingtheater uraufgeführten Abtreibungsstück »Cyankali« für Furore gesorgt hat und dafür sogar verhaftet worden ist. Sanger sei, schreibt Meta, »die Vorkämpferin der Geburtenregelung in Amerika«. Sie habe »zur Verminderung der Leiden ihrer Geschlechtsgenossinnen, die sie als Schwester in den Hospitälern zu pflegen bekam, den aktiven Kampf aufgenommen«. Die Briefe der Frauen klängen »wie ein einziger ungeheurer Schrei der Mütter! Nach Lebenskraft und Lebensrecht für sich, für die geborenen und ungeborenen Kinder«.

Dazu passt, dass Meta Ende 1929 oder Anfang 1930 auch eine ständige Mitarbeit am Institut für Sexualwissenschaft beginnt, das von Magnus Hirschfeld geleitet wird, den sie noch aus der Roten Hilfe kennt. Meta nimmt nun am 4. Kongress der »Weltliga für Sexualreform« teil, der mit etwa 1.000 Teilnehmern vom 16. bis 23. September 1930 in Wien tagt. Hirschfeld eröffnet über die Sexualreform. Meta stimmt mit ihm überein, dass der Krieg für Frauen große Veränderungen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage mit sich gebracht habe. Sie betont aber, dass Männer erhebliche Anstrengungen während und nach dem Krieg unternommen hätten, diese Errungenschaften wieder zurückzudrehen.

Das Wochenblatt der Katholischen Schulvereinigung besucht den Kongress und empört sich später darüber, dass Meta gegen »die sexuelle Not der Jugendlichen« anregt, dass sie »wenigstens vom 16. Lebensjahre an Gelegenheit geboten« bekommen sollten, »ohne Bewilligung durch die Eltern sich geschlechtlich (zu) betätigen«. Am Ende des Kongresses wird Meta in den achtköpfigen Arbeitsausschuss gewählt. Der 693 Seiten starke Sammelband »Sexualnot und Sexualreform«, den sie zusammen mit Hirschfeld und anderen herausgibt, dokumentiert die Diskussion.

Zu Metas Tätigkeit im Institut gehört auch die Beteiligung an Hirschfelds monumentaler »Sittengeschichte der Nachkriegszeit«, die 1931 in zwei Bänden erscheint. Sie beschäftigt sich mit »sexuellem Missbrauch des Kindes« und mit »Frauenarbeit und Frauenemanzipation in der Nachkriegszeit«. Dass nur ein Viertel aller Frauen Hausfrauen sei, aber sehr viele mehr erwerbstätig, unterstreiche die wachsende ökonomische Bedeutungslosigkeit der Ehe für die Frau.

Verteidung der Schriftsteller

Daneben engagiert sich Meta auch im Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS), der mit 2.400 Mitgliedern die »erste umfassende« und »führende Interessenvertretung der deutschen Autorenschaft« ist. 1931 wird der SDS zum Kampffeld gegen die »allgemein bemerkbare Tendenz zur Faschisierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens« (Erich Mühsam). Im Mittelpunkt steht die Verteidigung der »Freiheit des Schrifttums« gegen die wachsende Zensur gegen linke Schriftsteller, die erfolgt auf der Grundlage des Schund- und Schmutzgesetzes (1926), des zweiten »Republikschutzgesetzes« (März 1930), das linke Schriftsteller wegen literarischen »Hochverrats« kriminalisiert, und der Pressenotverordnung vom Juli 1931, mit der zeitweilig die Rote Fahne und der Roman »Barrikaden am Wedding« verboten werden. Der SDS-Hauptvorstand hatte die Pressenotverordnung bei leisem Protest mitgetragen. In Berlin, Glutkern des SDS, bildet sich eine Mehrheit dagegen. Sie entzieht dem Vorsitzenden Robert Breuer, ein SPD-Mann, das Vertrauen. Im Herbst 1931 wird Meta neben Georg Lukács, F.C. Weiskopf, Heinz Pol und David Luschnat in den neuen Vorstand gewählt. Der Hauptvorstand forciert daraufhin Ausschlussanträge gegen linke Schriftsteller wie Brecht, Mühsam, Luschnat, Anna Seghers, Berta Lask, Erich Weinert, Johannes R. Becher, Ludwig Renn, Erich Weinert usw. Da viele, aber längst nicht alle, auch im »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« engagiert sind, rechtfertigt er dies als »Säuberung des SDS von den Kommunisten«. In Hamburg und auch in Köln regt sich Widerstand. Linksbürgerliche Schriftsteller, darunter Erich Kästner und Robert Musil, solidarisieren sich. Der neue Vorstand um Meta will diese Aktivitäten bündeln. Sein Ziel ist es, »die Opposition im SDS im Reichsmaßstab auf(zu)ziehen« und ein »›Linkskartell‹ aller fortschrittlichen Organisationen« zu schaffen, um eine »mächtigere Bewegung der sich radikalisierenden bürgerlichen Intelligenz gegen das Notverordnungssystem, gegen die Faschisierung des Geisteslebens auszulösen«.

Am 19. Oktober erfolgen unter dem Vorsitz von Breuer und Werner Schendell dennoch die Ausschlüsse von insgesamt 17 Schriftstellern, u. a. von Mühsam, Lask und Wieland Herzfelde. In Anwesenheit wird auch das Hauptvorstandsmitglied Ludwig Renn ausgeschlossen, weil er sich solidarisiert. Zu einer Protestlesung, an der auch Brecht teilnimmt, kommen eine Woche später 500 Teilnehmer. Am 10./11. Januar 1931 soll die SDS-Delegiertenkonferenz stattfinden. Meta ist neben Lukács, Weiskopf, Seghers, Axel Eggebrecht und anderen als Delegierte vorgesehen. Der Hauptvorstand schickt jedoch den Mitgliedern des Berliner Vorstands, also auch ihr, im Vorfeld die Mitteilung, dass sie ausgeschlossen seien. Er kann sich damit aber nicht durchsetzen: Die Delegierten verfügen die Rücknahme der Ausschlüsse. Eine Satzungsänderung, die den SDS verpflichten soll, »politisch völlig neutral« zu sein, wird abgeschmettert. Auch kann die Berliner Opposition eigene Kandidaten im neuen Hauptvorstand plazieren.

Das vom Berliner Vorstand beschlossene Aktionsprogramm steht jenseits der Sozialfaschismustheorie eher im Geist einer gewerkschaftlich orientierten, antifaschistisch-demokratischen Volksfront. Dazu passt der Entschluss, die Mitgliederversammlung vom 21. März 1932 als »Goethe-Feier« abzuhalten, auf der neben Lukács selbst auch Mühsam und Ernst Bloch sprechen sollen. Der Hauptvorstand verbietet diese Veranstaltung jedoch, stellt »alle Zusammenarbeit« ein und hebt eine »verbandsrechtlich völlig illegale« neue Ortsgruppe »Berlin-Brandenburg« aus der Taufe. Es ist schließlich diese Gruppe, die unter Federführung von Max Barthel der Gleichschaltung im faschistischen »Reichsverband Deutscher Schriftsteller« und den Bücherverbrennungen 1933 den Weg ebnen wird.

Am 30. Januar 1933 überträgt Reichspräsident Hindenburg stellvertretend für Großgrundbesitz und Reichswehr Hitler die Macht. Jetzt schart sich mit Krupp auch das übrige Industriekapital hinter die Nazis und finanziert ihren Wahlkampf. Meta wird verhaftet. In der 1933 vom »Gesamtverband deutscher antikommunistischer Vereinigungen« mit der Auflage von über einer Viertelmillion verbreiteten Schrift »Bewaffneter Aufstand! Enthüllungen über den kommunistischen Umsturzversuch am Vorabend der nationalen Revolution«, geschrieben vom NSDAP-Funktionär Adolf Ehrt, wird Meta namentlich als Mitglied eines zehnköpfigen »geheimen Zentrums« des »illegalen Apparates« der Roten Hilfe genannt, das analog zum »illegalen Parteiapparat« diesen Aufstand vorbereitet und dafür systematisch Pässe für Bolschewisten usw. gefälscht habe.

Im Exil

Meta wird tatsächlich verhaftet und angeklagt, ihre Bibliothek und ihre Papiere werden konfisziert. Sie wird dann aber unter bislang ungeklärten Umständen freigesprochen. Klar ist, Meta muss Deutschland verlassen. Sie flieht zunächst nach Holland, wo sie aber »in bezug auf meine Existenz nichts erreichen« kann, weshalb sie nun »in abenteuerlicher Weise« über Bern nach Wien flieht, »als ich plötzlich den Vorschlag bekam, einen leeren Platz in einem Luxusauto einzunehmen und mitzufahren«, wie sie am 16. April 1934 an den Schweizer »Arzt der Armen«, Fritz Brupbacher, schreibt. In ihrer eigenen Existenz bedroht, beobachtet sie, dass in Wien »das Elend schrecklich zugenommen« habe; »in den ersten Monaten« sei sie »ganz gedrückt durch die einen ständig umgebende Not« gewesen, »so viel Arbeitslosigkeit, so viel Hunger, so viel Magerheit und so viel Herabgekommenheit des Menschen und seiner Hüllen«.

In Wien bleibt Meta nicht. Sie geht nach Prag, um dort Zenzl Mühsam zu unterstützen. Bei ihr wohnt sie mehrere Monate. Das entscheidende Projekt ist ein Buch über die KZ-Inhaftierung und spätere Ermordung von Zenzls Ehemann Erich. Am 20. Juni 1934 schreibt er noch einmal aus dem KZ Oranienburg an Zenzl, er sei »sehr glücklich, die Grüße von der alten Oma bekommen« zu haben. »Falls sie noch da« sei, grüße er »herzlich zurück«. Am 21. August schreibt Zenzl aus Prag an Rudolf Rocker und Milly Witkop: »Am 8. Juli habe ich Erich zum letzten Mal gesehen. (…) Im Augenblick habe ich faktisch kein Geld. Meta ist bei mir.« Aber schon in der Nacht vom 9./10. Juli ist Erich von der SS ermordet worden. Das Buch, das seinen Leidensweg schildert, erscheint schließlich 1935 unter Zenzls Namen. Es ist aber wohl bewiesen, dass Meta die eigentliche Autorin ist, zusammen mit Erich Wollenberg.

Meta kümmert sich auch sonst um die Genossen. Sie hält die Kontakte, auch zu Hirschfeld, der in Nizza sitzt, wird zur Schaltstelle, die das Umfeld informiert. Man kann sich auf sie verlassen. Den Verlust von Rockers Bibliothek kann sie nicht verhindern. Aber die Rettung der Buchbestände von Max Nettlau, dem sie auch zur Flucht nach Amsterdam verhilft, ist ihr zu verdanken. Das IISG in Amsterdam kauft sie.

Zugleich stößt Meta bei dieser Arbeit an ihre eigenen Grenzen. Am 13. November 1934 teilt Zenzl ihrer Freundin Mollie Steimer betrübt mit, »dass Meta (…) nach Wien hatte zurückgehen müssen, da sie in Prag über keinerlei Einkommen verfügte«. In einem Brief an die Spanierin Mercedes Comaposada wird Steimer dieser am 8. April 1936 mitteilen, dass sie Meta neben Emma Goldman und Wittkop für die wichtigsten Ansprechpartnerinnen in Sachen Feminismus hält. Meta sei, schreibt die Anarchistin, zwar »nicht wirklich eine Genossin. Aber sie (…) besitzt eine Menge Daten über Frauen und Kinder in fast jedem Land. Sie ist eine sehr sympathische Person und meine sehr gute Freundin.«

Ende 1935, Anfang 1936 ist Meta wieder in Prag, um Zenzl zu unterstützen. Es kommt aber offenbar zu einem verhängnisvollen Streit. Meta kehrt nach Wien zurück. Zenzl wiederum geht nun entgegen den Warnungen ihrer Freunde in die Sowjetunion. Am 23. April wird sie dort verhaftet. Meta erfährt davon in Wien und teilt dies im Juni Steimer in Paris mit, die die Information wiederum am 22. Juni an Rocker und Wittkop weitergibt.

Um Meta zieht sich die Schlinge enger. Am 25. Juli veröffentlicht der Deutsche Reichsanzeiger, dass sie »der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt« worden ist. Meta wird zudem enteignet.

In Wien wohnt sie nun wieder bei ihrem Exmann. Es gibt sogar Hinweise, dass sie womöglich Kraus zwecks der Aufenthaltsgenehmigung noch einmal heiratet. In der Stadt nimmt sie Kontakt zu den feministischen Kreisen rund um die neun Jahre jüngere Nichte von Gustav Mahler, Anna Helene Aszkanazy, auf, die mit einem reichen jüdischen Ingenieur verheiratet ist. Aszkanazy hat u. a. 1931 die »Politische Schule für Frauen« gegründet. Meta arbeitet nun als ihre Sekretärin an der »Entzyklopädie der Frauenarbeit« und übersetzt die bislang unveröffentlichte Autobiographie der britischen Feministin Kitty Marion. Als Aszkanazy in Windeseile die Übersetzung an Kitty Marion schickt, kommentiert sie, Meta müsse »etwas Nützliches in meiner Geschichte gesehen haben, wenn sie so viel Zeit darauf verwendet«.

Der Anschluss Österreichs an Nazideutschland am 12./13. März 1938 verhindert die avisierte Publikation. Aszkanazy flieht noch am selben Tag mit ihren beiden Töchtern nach London, um anschließend nach Britisch-Kolumbien überzusiedeln. Das gelingt gerade noch rechtzeitig. Ihr Mann Simon wird von den Nazis festgenommen und stirbt schon zwei Tage später im Polizeigefängnis. Auch Siegfried Kraus flieht bald. Am 24. August verlässt er, finanziell blank, mit dem Flüchtlingsschiff »SS Veendam« Europa von Rotterdam aus und erreicht am 4. September New York und macht in den USA tatsächlich noch eine wissenschaftliche Karriere.

Meta hält sich noch länger in Europa auf und hat Glück. Sie bemüht sich von Wien aus um baskische Kinder und wendet sich hierfür an die Behörden in London. Sie wird nach Paris vermittelt und reist aus diesem Grund dorthin – gerade noch rechtzeitig.

Jenseits des Atlantiks

Ende 1938 ist klar, dass auch Meta als ausgebürgerte Kommunistin nicht mehr in Europa bleiben kann. Sie bewirbt sich von Paris aus um einen »Emigration Grant« der »Society of Friends, Germany Emergency Committee«. Im März 1939 wird ihr die Einreise nach Kanada genehmigt. Sie verlässt den Kontinent in Marseille per Schiff. Am 1. September beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Zwei Wochen später, am 16. September, erreicht Meta Kanada.

In Kanada trifft sie womöglich noch Emma Goldman. Eine Verbindung ist belegt. Die Biographin Inge Helm behauptet, Meta habe sich einer Darmkrebsoperation unterziehen müssen, »Metastasen überall«. Goldman, die sie im Krankenhaus besucht habe, soll Meta noch gesagt haben: »Hol mich hier bitte raus. Ich bin allergisch gegen Krankenhäuser und die Ärzte hier wollen mich nicht gehen lassen.« Das kann dann nur in Toronto gewesen sein, wo Goldman am Ende ihres Lebens wohnt.

Goldman erleidet am 17. Februar 1940 einen schlimmen Herzinfarkt und stirbt am 14. Mai. Zu diesem Zeitpunkt ist Meta nachweislich längst in Britisch-Kolumbien. Dorthin war sie durch Aszkanazy gelangt, die, wie der Daily Colonist am 14. März 1939 berichtet, mit ihrem Vermögen in Sooke, einem Küstenort 45 Kilometer westlich von Victoria, das Harbor House gekauft habe, um hier eine »pennylose« Gruppe von 14 Flüchtlingen aus Deutschland anzusiedeln. Man werde das Haus als Kooperative betreiben. Europa, wird Aszkanazy zitiert, sei »dem Untergang geweiht. Es stirbt. Es begeht Selbstmord.«

In Sooke kommt Meta spätestens Anfang Februar 1940 an. Sie bleibt dort aber nicht lange, sondern siedelt sich in Victoria an, in der 133 Cook Street. Wenigstens zwischen Mitte Februar und Mitte Mai hält sie rund um die Stadt regelmäßig Vorträge – bei der »Guild of Friendship«, der »Federation of Business and Professional Women’s Clubs« und beim »Current Events Club«. Sie berichtet über »die Knechtschaft, in der die Bevölkerung ihres Vaterlands vom Naziregime gehalten« wird, und ihre eigene Flüchtlingsbiographie. Auch spricht sie über die »Möglichkeit gemeinsamer Sicherheit nach dem Krieg und über die Rolle, die Frauen darin spielen könnten«. Der »Victoria Graduate Nurses Association« wiederum berichtet sie »über ihre Erfahrung in der Gesundheits- und Sozialpolitik«.

Aber Meta ist unheilbar krank. Schon in Wien hatte sie sich um den Jahreswechsel 1936/37 einer Gebärmutterkrebs-OP unterziehen müssen. Wie so viele Sozialisten und Anarchisten vor und nach ihr will sie die Entscheidung über das Ende ihres Lebens selbst treffen. Am 22. November 1940 nimmt sie sich in Victoria das Leben. Der Beerdigungsgottesdienst findet am 26. November in der Hayward Funeral Chapel statt. Danach werden ihre sterblichen Überreste im Krematorium Royal Oak verbrannt.

Als Eugene Leviné sich 1919 vor Gericht verteidigte, sagte er: »Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.« Erschossen wurde er mit den Worten auf den Lippen: »Es lebe die Weltrevolution!« Wenige Jahre später schrieb Meta im selben Geist an das Ehepaar Freinet: »Ich bin gezwungen, meinen Weg zu gehen, der in der Morgendämmerung der proletarischen Revolution in Deutschland begonnen hat. Ich habe kein Recht mehr auf ein friedliches Leben.« Aber das Leben umarmt sie: »Ich liebe euch (…) von ganzem Herzen. Ich fühle mich wie eure Schwester, eure Genossin, eure Freundin. Ja, meine Familie ist groß, liebe Élise! Da unten, da oben und hier! Wenn ich an dich denke, an das ›Haus, in dem ich geliebt werde‹, finde ich meine Familie und mein Vaterland erweitert, bis hin zu einem riesigen kollektiven Herzen.«

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle in der Ausgabe vom 27. /28.7 über J.D. Vance.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (13. August 2024 um 09:46 Uhr)
    Ingar Solty ist ein bemerkenswertes Porträt einer bemerkenswerten Mitstreiterin gelungen. Zu loben ist seine Zurückhaltung, Meta Kraus-Fessels Verhalten aus heutiger Sicht allzu detailliert bewerten zu wollen. Eindeutigkeit und Richtigkeit politischen Verhaltens stellen sich oft erst im Nachhinein heraus. Man darf komplizierten Entscheidungen seiner Mitstreiter in komplizierten Situationen durchaus Achtung zollen, auch wenn sie sich im Nachhinein eventuell als Irrtum erweisen sollten. Das ist ein Ansatz, der unter vielen Linken durchaus öfter Anwendung finden sollte.

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