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Aus: Ausgabe vom 14.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Im Sandkasten der Entdeckung

Posthum erschienen: »Blumen für den Underdog. Rabiate Geschichten«, die letzten Arbeiten des sächsischen Schriftstellers Rainer Klis
Von Klaus Müller
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Rainer Klis (7. August 1955 – 14. Oktober 2017)

Der Schriftsteller Rainer Klis starb 2017 mit 62 Jahren im sächsischen Hohenstein-Ernstthal nur etwa 100 Meter entfernt von dem Ort, wo 175 Jahre zuvor Karl May geboren worden war. Der Ältere erlangte Weltruhm, der phantasiebegabte Jüngere schrieb die besseren Texte, heiter, schrullig und stilistisch ausgefeilt. Beide interessierten sich für die Welt der »Indianer«; ein Begriff, der zu ihrer Zeit noch nicht als rassistisch gegeißelt wurde. Über seine Reisen zu den historischen Stätten Yellow­stone, Wounded Knee und ­Little Bighorn, an denen sich das tragische Schicksal der amerikanischen Ureinwohner entschieden hatte, sowie zu den Nachfahren der großen Häuptlinge erzählt Klis in den Büchern »Streifzüge durchs Indianerland« (2000) und »Im Land der Crow« (2002). In den Romanen »Der Abend des Vertreters« (2000), »Nacht der Kavaliere« (2003) und »Steinzeit« (2007) schildert er ironisch-witzig Schicksale von Menschen, die sich, eingeschnürt zwischen der Sehnsucht nach dem »Duft der großen weiten Welt« und den Tücken der »Stunde null«, neu finden mussten, als der Kapitalismus nach Ostdeutschland zurückkam und den »real existierenden Sozialismus« vertrieb. Im Jahre 2012 erscheint Klis’ Hommage auf die Zigarre »Rauch-Werk«. Wiglaf Droste nannte es »eine mit Klugheit, Kenntnis, Lässigkeit und Genuss gesättigte Schrift, eine Feier des einzigen Tabaks der Welt, den zu rauchen sich lohnt: des kubanischen«. Nach der Lektüre zündet sich selbst ein Gesundheitsfanatiker eine Havanna an.

Rainer Klis hatte im Jahre 1983 mit »Aufstand der Leser« debütiert. Von Anfang an erwies er sich als Meister der kleinen Form. Friedrich Albrecht, Literaturwissenschaftler und Klis’ Mentor am Institut für Literatur »Johannes R. Becher« in Leipzig, hat das Erstlingswerk besprochen. »Selten«, sagt er, habe er »einen Autor erlebt, der eine üppige Phantasie in solch eine geradezu mathematische Präzision zu fassen suchte und mit solcher Beharrlichkeit am Wort arbeitete.«

Der Mitteldeutsche Verlag hat nun die letzten Arbeiten von Rainer Klis posthum herausgebracht. Das Buch enthält 33 Storys, eingeteilt in vier Kapitel: »Nippes für das Knastregal«, »Startklar für den Horror«, »Wer redet, stirbt«, »Zahn um Zahn«. Im Mittelpunkt stehen Underdogs, Pechvögel, Arbeitslose; liebenswerte Verlierer, die den Widrigkeiten trotzen und frohen Mutes von vorn beginnen. So wie Rudi, der auf der Buchmesse Verleger sucht und in den kapitalistischen Literaturbetrieb vergeblich Hoffnungen setzt. Oder der Lyriker Hannes Birklbrinks, »der sein ganzes junges Dichterleben lang geduldig wie die Mohrrübe im Sandkasten der Ent­deckung geharrt hatte«. Auch in den letzten so rabiaten wie menschenfreundlichen Geschichten sind sie alle versammelt, die Helden aus Klis’ Büchern. Pfiffige Hinterwäldler, Geschiedene und Verlassene, Gepiesackte und von manch’ Zipperlein Geplagte. Luftikusse und Tausendsassas. Knackis, die Humboldt und Kolumbus lesen. Ein Kaufhausdetektiv, der den eigenen Laden beklaut. Sonderlinge mit einer Menge Flausen im Kopf wie Kalle, der Storys mit dem Ziel schreibt, dass sich ihre Leser erschießen mögen. Glücklos Handelnde, stets umweht von Zigarettenqualm, Pfeifentabak und Alkoholdunst. Und natürlich Apachen, Comanchen, Sioux, Cree, Cheyenne, Großer Adler, Schlauer Fuchs … Man staunt, wie Klis die immer gleichen Figuren und Ingredienzen überraschend zu feinen neuen vergnüglichen Geschichten webt. Der Leser spürt: Klis liebt seine Helden, fühlt sich als einer von ihnen und ist einer von ihnen.

Ein Werk ohne Mängel? Kritikern, die nur loben, traute Klis nicht; auch jenen nicht, die selbst noch Gutes fanden, wo es »der geübte Leser nach wiederholter Lektüre niemals vermutet« hätte. Sprachverzückt fügt Klis Wort an Wort, reiht Satz an Satz und formt so sein Werk. Doch die Aufmerksamkeit des Lesers ist mitunter stark gefordert. Er muss grübeln, um den Sinn mancher Sentenz, manchen Puzzlestücks oder gar des Ganzen zu erfassen. Nicht alles teilt sich auf Anhieb mit, einiges auch nach längerem Nachdenken nicht. Ich gestand dem Autor – wir waren befreundet –, einige Passagen seiner Texte nicht zu verstehen. Er antwortete, ihm ginge es auch so.

Das Buch enthält unter dem Titel »Von Herz zu Herz« auch einen Klis-Klassiker. Darin erzählt der Autor augenzwinkernd von der sprichwörtlich überwältigenden Gastfreundschaft der Russen, die er genoss, als er in Sibirien den dortigen Schriftstellerverband besuchte. Die Folge: Cholera oder Ruhr oder beides. »Am Ende geben sie Wodka mit Salz.«

Auch die rabiaten Storys bestätigen es wieder: Rainer Klis hat eine funkelnde Kurzprosa von seltener Güte und Vielfalt hinterlassen. Sie haben die Literatur bereichert. Und sie enthalten die lebenskluge, zeitlos gültige, ermutigende Botschaft: Aufgeben lohnt nicht.

Rainer Klis: Blumen für den Underdog. Rabiate Geschichten. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 2024, 156 Seiten, 20 Euro

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