Endlich wieder siegen
Von Hellmut KapfenbergerIm Sommer 1964 witterten kriegserfahrene Führungskreise der Bundeswehr Morgenluft. In jener Zeit drängte Washington darauf, die Bundesrepublik möge sich zum tatkräftigen Beweis ihrer Bündnistreue und als adäquate Gegenleistung für die maßgeblich von den USA gewährte Westberlin-Garantie nicht mehr nur – wie seit 1955 – politisch, finanziell und materiell in Südvietnam engagieren. Man erwartete mehr. So wird es kein Zufall gewesen sein, dass an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese in jenem Sommer eine als streng geheim eingestufte militärpolitisch-psychologische Untersuchung der Studiengruppe Heer erarbeitet wurde, die den Titel trug: »Die Bestätigung des deutschen Soldaten in der Gegenwart«. Es blieb der DDR-Presse vorbehalten, dieses hochbrisante Dokument 1966 der deutschen und internationalen Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben.¹
Unterteilt in die Abschnitte »Historischer Rückblick«, »Die Problematik heute« und »Das Erfolgserlebnis der Bundeswehr«, offenbarte die Studie den alten militaristischen Geist an der Spitze der am 12. November 1955 gegründeten westdeutschen Armee. Um ihn nach jahrelanger Zwangspause in der Praxis aufleben lassen zu können, hielt man Vietnam in der gegebenen Situation für eine exzellente Gelegenheit, sich nach den Niederlagen von 1918 und 1945 erstmals wieder in einem großen Krieg mit Siegeslorbeer schmücken zu können.
Wieso Vietnam? Unübersehbar war das Scheitern der bisherigen Strategie der USA in Vietnams Süden. Trotz einiger zehntausend »Berater« bei der mit riesigem Aufwand hochgerüsteten Saigoner Armee und eigener Kommandozentralen musste die politische und militärische Führung in Washington Schlimmes befürchten. Anfang 1964 mahnte der Nationale Sicherheitsrat der USA Präsident Lyndon B. Johnson: »Ein Sieg der Kommunisten würde dem Ansehen der USA in der ganzen Welt Schaden zufügen. Der Konflikt ist ein Testfall dafür, wie die USA mit einem kommunistischen ›Befreiungskrieg‹ umgehen werden. Die gesamte US-Außenpolitik ist betroffen.« So meldeten sich denn »strategische Köpfe« beim treuesten Verbündeten diesseits des Atlantiks zu Wort. Ob es allerdings im Sinne Washingtons war, dass militärische Vertreter des westdeutschen »Ziehkinds« tatsächlich mit dem Gedanken spielten, in Südvietnam auf Augenhöhe mit den USA agieren zu wollen, statt »nur« zu Diensten zu sein, sei dahingestellt.
Nur noch ostwärts
»Der deutsche Offizier war nach dem Ersten Weltkrieg sehr stark in der deprimierenden Vorstellung befangen, in einer Armee gedient zu haben, die den Siegeslorbeer nicht errungen hat«, hieß es im »Historischen Rückblick« einleitend. »Das Preußisch-Kaiserliche Heer und sein Offizierskorps trugen nicht nur ein volles halbes Jahrhundert lang – (von 1864 bis 1914) – das erhebende Gefühl in sich, Sieger in drei Kriegen gewesen zu sein und zur Weltgeltung Deutschlands durch den Ruhm seiner Waffentat entscheidend beigetragen zu haben. (…) Es ist kein Zufall, dass dadurch der deutsche Soldat in den Ruf kam, der beste Soldat zu sein. Der Große Generalstab² beließ das Heer nicht nur im Glanze des Ruhms von 1870/71, sondern nutzte von dem Augenblick an, als für weitschauende Politiker und Militärs der Krieg unausbleiblich heranrückte, jede sich bietende Gelegenheit, diesen Ruhm aufs neue zu bestätigen. Deshalb war es in der Reichswehrzeit für die Wehrmachtsführung von Bedeutung, für die junge Wehrmacht die Ursache der Niederlage von 1918 nicht aus soldatischem Versagen oder mangelhaften Führungsqualitäten abzuleiten.«
Weiter: »Für den Geist der Truppe und in Vorbereitung der unvermeidlich auf sie zukommenden großen Aufgaben mussten psychologische Tatsachen geschaffen werden, die es dem Offizier möglich machten, in der Erziehung seiner Soldaten nicht nur auf die Tradition preußisch-deutschen Soldatentums: Tapferkeit, Mut, Treue, Gehorsam und Pflichterfüllung, verweisen zu können, sondern auch und noch vielmehr auf den Lohn dieser Tugenden, den krönenden Sieg! (…) Dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 zugleich verbunden wurde mit dem Einmarsch der jungen Wehrmacht in die sogenannte entmilitarisierte Rheinlandzone³, war zwar nicht die Feuertaufe, aber alle nachfolgenden Aktionen – Österreich, Sudetenland, Tschechoslowakei – stellten psychologische Steigerungen dar, die sich auf den Geist der Soldaten wohltuend auswirkten und dem Offizier die Ausbildung mit all ihren physischen und psychischen Anforderungen außerordentlich erleichterten. Mit der Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg konnte die erstarkte Wehrmacht Ruhm an ihre Fahnen heften, sich mit dem Siegeslorbeer schmücken und die Überlegenheit deutschen Menschen- und Kriegsmaterials beweisen. Die propagandistische Auswertung tat ihr übriges, aus dem Bewusstsein der deutschen Soldaten die Erinnerung an die Niederlage von 1918 auszulöschen.«
Zu Beginn des Abschnitts »Die Problematik heute« war zu lesen: »Mit dem Aufbau der Bundeswehr stellten sich der Truppenführung ähnliche Probleme wie nach dem Ersten Weltkrieg. Die mit der Erinnerung an die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht verknüpften Depressionserscheinungen, von denen auch bewährte Soldaten nicht frei bleiben, setzten den Zwang zu vollständig neuem Beginn. Die Gefahr des Verlustes des Traditionsbildes war mit der Stunde Null sehr groß. Als Ersatz für fehlendes Siegesbewusstsein konnte der Trost gelten, nunmehr wenigstens mit der Gruppe der Sieger verbündet zu sein, die, gleich uns, einen potentiellen Gegner nur noch ostwärts zu suchen hatten.«
Die Bundeswehr sei nun in die (1949 gegründete) NATO integriert, aber: »Die Form der Aufgabe nationalstaatlicher Rechte wurde für die Übervorsichtigen im In- und Ausland als Sicherung gegen Rückfälle in die Vergangenheit hingestellt. Damit wurde zugleich jede Bindung an die Traditionen deutschen Soldatentums zerschnitten und die Heranbildung einer verantwortungsbereiten Elite unterbunden, zumindest erschwert.« Das sei »nicht dazu angetan, das Selbstbewusstsein deutscher Soldaten und Offiziere in der eigenen Armee, geschweige denn in ihrer Integration in die NATO zu heben und neu zu entwickeln.«
Im Abschnitt »Das Erfolgserlebnis der Bundeswehr« wurden dann unverblümt die neuen Ambitionen formuliert. »Was von den Bündnispartnern der NATO bei der Aufstellung der Bundeswehr als Sicherung gegen Potential und Wirksamkeit einer neuen deutschen Armee gedacht war – die restlose Integrierung der Bundeswehr in die NATO und deren Stäbe – kann leicht überspielt werden, indem wir Bündnistreue par excellence betreiben. Gelegenheiten, diese Bündnistreue zu beweisen, haben sich in letzter Zeit viele angeboten.« Als Beispiel dafür diente die Zypern-Frage. Ursprünglich habe die Absicht bestanden, »ein Bundeswehr-Kontingent einzusetzen, Makarios in die Schranken zu verweisen und in dem Streit zwischen Türkei und Griechenland um Zypern eine Schiedsrichterrolle zu übernehmen«.⁴ Das aber hätte »unweigerlich« zur Auseinandersetzung mit dem einen oder dem anderen dieser beiden Staaten geführt »und unnötig die NATO-Partner England, USA und Frankreich verärgert, die im Zypern-Konflikt ihre differenzierten Interessen vertreten«. Deshalb sei es richtig gewesen, »von einer Aktion der Bundeswehr abzusehen«.
Imagepflege
Nun aber biete sich »in Südostasien, vornehmlich in Südvietnam, eine Gelegenheit, die unverzüglich genutzt werden sollte. Eine Bundeswehr-Aktion hätte in verschiedener Hinsicht günstige Folgen. Wenn die USA in Südostasien nicht das Gesicht verlieren wollen, müssen sie schon in allernächster Zeit zu Aktionen schreiten, die klare Verhältnisse schaffen und dem sich auch in diesem Teil der Welt immer mehr ausbreitenden kommunistischen Einfluss zumindest einen Damm entgegenstellen.«
Des weiteren wurde argumentiert: »Die Teilnahme eines Bundeswehr-Kontingents würde die Bündnistreue der Bundesrepublik unter Beweis stellen. Da das Pentagon sich nicht mehr mit halben Maßnahmen begnügen darf, ist der Sieg gewiss und – was das Entscheidendste ist – die Bundeswehr wäre an diesem Sieg beteiligt! Eine weitere Konsequenz sollte nicht übersehen werden: Eine Bundeswehr-Aktion unter diesen Aspekten gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde Ansehen, Achtung und Autorität der Bundeswehr bei allen NATO-Partnern, vor allem aber in den USA, gewaltig steigern; denn optisch würde sich ein Sieg der USA und Südvietnams vor der Weltöffentlichkeit so darstellen, als ob er ohne Hilfe und Eingreifen der Bundeswehr gar nicht hätte errungen werden können. Von besonderer psychologischer Bedeutung wäre gleichzeitig, dass erstmals deutsche und amerikanische Einheiten im bewaffneten Kampf Seite an Seite stünden.«
Zum Schluss hieß es: »Die junge Bundeswehr braucht einen sichtbaren Erfolg. Er würde nicht nur die These erhärten, dass Deutschland diesmal den richtigen Bundesgenossen auf seiner Seite hat, sondern würde außerdem klarstellen, dass jeder Bündnispartner mit diesem Deutschland und dieser Bundeswehr rechnen muss. Die Priorität nächst oder vielleicht auch neben den USA im NATO-Bündnis wäre dann unbestreitbar.«
Die Studie stammte nicht von irgendwem. Sie ist das Produkt des Lehrkörpers jener Einrichtung der Bundeswehr, die seit 1967 bis heute den jeweils besten Kursanten ihres Generalstabslehrgangs mit einem »General-Heusinger-Preis« auszeichnet, einem Preis, der nach einem Mann benannt ist, dessen Verhaftung und Auslieferung wegen Kriegsverbrechen auf sowjetischem Boden 1961 die UdSSR von den USA gefordert hatte.⁵ Der Nazigeneralleutnant Adolf Heusinger, mit Gründung der BRD 1949 einer der militärischen Spitzenberater von Bundeskanzler Konrad Adenauer, ab 1955 wieder Generalleutnant und ab 1957 erster Generalinspekteur der Bundeswehr, war seit 1961 als Chef des NATO-Militärausschusses in Washington der höchste NATO-Militär.
Kaum anzunehmen ist, dass eine solch brisante Studie der Akademie-»Studiengruppe Heer« ohne Kenntnis des Heeresinspekteurs der Bundeswehr zu Papier gebracht werden konnte. Diesen Posten hatte Generalmajor Ulrich de Maizière, 1962 selbst Kommandeur der Führungsakademie geworden, 1964 übernommen. De Maizière war bereits seit Anfang 1951 als »Militärberater« im Amt Blank in Bonn⁶ tätig gewesen und 1955 als Oberst in die Bundeswehr eingetreten. Ab 1941 als Generalstäbler vorwiegend an der Ostfront, hatte er ab Februar 1945 als Oberstleutnant und Erster Generalstabsoffizier der von Heusinger kommandierten Operationsabteilung des Oberkommandos des Heeres (OKH) angehört. Im Frühjahr 1945 nahm er in dieser Funktion auch an den Lagevorträgen bei Adolf Hitler in der Berliner Reichskanzlei teil.
Größter Geldgeber
Während Bundeswehr-Strategen ernsthaft darüber sinnierten, wo und wie der seit Offiziersgenerationen heiß ersehnte militärische Lorbeer erworben werden könnte, und ihren Blick nach Südostasien richteten, war die BRD längst in das Indochina-Abenteuer der USA involviert. Das direkte Vietnam-Engagement hatte Ende 1955 seinen Anfang genommen. Die Bundesrepublik gehörte zu den ersten Verbündeten der USA, die jene »Republik Vietnam« anerkannten, die von Washington unter Bruch der Genfer Indochina-Abkommen vom Vorjahr und damit des Völkerrechts im Süden Vietnams installiert worden war. Bonn gehörte fortan nach den USA zu den größten Geldgebern des Saigoner Regimes, und das bis zu dessen Ende am 30. April 1975.
Washington reichte all das aber in Anbetracht der bedrohlichen Lage des Jahres 1964 in Südvietnam nicht mehr. Präsident John F. Kennedys Amtsnachfolger, der vormalige Vizepräsident Lyndon B. Johnson, formulierte das im November 1963 in seiner Antrittsrede vor beiden Häusern des USA-Kongresses deutlich: »This nation will keep its commitments from South Vietnam to West Berlin.« (»Diese Nation wird ihren Verpflichtungen von Südvietnam bis Westberlin nachkommen.«) Damit war der Bundesrepublik unmissverständlich zu verstehen gegeben worden: Amerikanische Bestandsgarantie für das als »Frontstadt« und »Pfahl im Fleische der DDR« apostrophierte Westberlin war ohne Gegenleistung beim antikommunistischen Feldzug in Vietnam auf Dauer nicht zu haben. Die folgenden Jahre lieferten vielfältige Beweise, dass die Johnson-Administration das politische Druckmittel häufig und zuweilen auch robust einsetzte.
Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte die Lektion verstanden und ließ es zumindest an verbalen Bekenntnissen nicht fehlen. Kurt Georg Kiesinger (1966–1969) tat es seinem Vorgänger gleich. Erhard hatte im März 1966 eine Rede im Bundestagswahlkampf zu dem Kassandraruf genutzt: »Wehe, wenn die Vereinigten Staaten dort versagen würden, dann frage ich Sie: Wie steht es um die Sicherheit Berlins und um die Sicherheit Europas?« In seinem 1994 erschienenen Buch »Johnson, Vietnam und der Westen« resümiert der westdeutsche Autor Joachim Arenth, Erhard »befürwortete vollends die amerikanische Argumentation und übernahm die zu einem Glaubensgrundsatz erhobene Metapher, die Freiheit werde in Südvietnam wie in Westberlin verteidigt«. Die zu erwartende Konsequenz war, dass sich Bonn schließlich auch mit immer unverhohlener vorgebrachtem Verlangen nach Entsendung westdeutscher Truppen in das Kriegsgebiet konfrontiert sah.
Angesichts der Erwartungen Washingtons wurde über Jahre hin in Politikerkreisen und Medien der Bundesrepublik über einen Einsatz kompletter Einheiten der Bundeswehr auf dem Kriegsschauplatz debattiert und spekuliert. Hinter den Kulissen aber gab es, was damals der westdeutschen Öffentlichkeit verborgen blieb, durchaus schon ernsthafte Überlegungen und offenbar sogar konkrete Angebote an die Adresse der USA. Kanzler Erhard wird zugeschrieben, Ende 1963 US-Verteidigungsminister Robert McNamara in einem vertraulichen Gespräch in Washington zugesichert zu haben, »dass die Bundeswehr einige Bataillone für Vietnam zur Überwachung des Friedens stellen werde«. Wohlgemerkt nicht für einen Kampfeinsatz. Die Frage ist allerdings, was für einen Frieden Erhard wohl gemeint haben könnte, sicherlich einen von den USA diktierten. Adenauers Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, der bis 1962 dieses Amt innehatte, gab 1989 in seinen posthum erschienenen »Erinnerungen« preis, im Mai 1964 in Washington von McNamara über diese Geheimofferte Erhards informiert worden zu sein. Washington ließ sich damit nicht zufriedenstellen.
Bonner Ergebenheitsadressen gegenüber dem Verbündeten mehrten sich zu eben jener Zeit, da sich die USA noch im geheimen darauf vorbereiteten, eigene Kampftruppen nach Südvietnam zu entsenden und den Norden des Landes zu überfallen. Die logische Folge war, dass im Vorfeld des ersten offiziellen Erhard-Besuchs im Weißen Haus im Juni 1964 »amerikanisches Drängen auf deutsche Truppen« noch deutlicher wurde, wie Presseberichte registrierten. Erhard aber zögerte noch immer, stimmte jedoch, wie im Kommunique vom 12. Juni erklärt wurde, mit Johnson darin überein, dass »die Republik Vietnam in ihrem Widerstand gegen den Vietcong volle Unterstützung erfahren« müsse.
Washington ließ in der Frage eines Bundeswehr-Einsatzes in Südvietnam nicht locker. Mitte 1965 attestierte die Hannoversche Allgemeine den Amerikanern »ein unstillbares Verlangen, die Deutschen vor ihren Karren zu spannen«. Nach einem Inspektionsflug zusammen mit Wilhelm Kopf, dem neuen BRD-Botschafter in der »Republik Vietnam«, einst Diplomat im Dienste des Naziregimes, äußerte US-General DePuy gegenüber dem Chefredakteur der Neuen Ruhr-Zeitung, Jens Feddersen: »Das Beste wäre, ich hätte an meiner rechten und an meiner linken Flanke je eine deutsche Division.« Bei einem Bonn-Besuch McNamaras im selben Jahr war Zeitungsberichten die »wenig kaschierte Bitte« an den deutschen NATO-Partner zu entnehmen, »sich aktiv an der Unterstützung der Verteidigungsbemühungen Südvietnams gegen die kommunistische Bedrohung zu beteiligen«.
Kneipe und Bordell
Das mit Sicherheit vorwiegend innenpolitisch und mit Blick auf die DDR motivierte Zaudern des Bundeskanzlers hatte einen Vorfall zur Folge, über den Der Spiegel 2001 berichtete. »Auf die Idee, dass die Deutschen nicht nur Zelte aufbauen und Gulasch austeilen könnten, kam zuerst US-Präsident Lyndon B. Johnson. Der Texaner brauchte 1965 Soldaten für den Vietnamkrieg und fand, dass die Westdeutschen sich am Mekong für die amerikanische Schutzgarantie in Berlin revanchieren könnten. Die Bundesregierung war nicht begeistert. Der Vietnamkrieg war in Deutschland schon 1965 unpopulär.« Das Blatt weiter: »Fünf Tage vor Weihnachten verpasste Johnson dem widerstrebenden Bundeskanzler Ludwig Erhard eines der berüchtigten ›Johnson-Treatments‹. Der Präsident schmeichelte und jammerte, brüllte, schrie und tat schließlich so, als wollte er dem Kanzler an den Kragen: Jetzt zeige sich, wer Amerikas wahre Freunde seien. Der Präsident forderte für Vietnam eine Sanitätseinheit von 200 Mann und ein Pionierbataillon von 1.000 Mann. US-Verteidigungsminister Robert McNamara ließ wenige Wochen später durchblicken, dass auch deutsche Kampftruppen willkommen seien. Erhard versprach lieber viel Geld für das südvietnamesische Regime und schickte das Hospitalschiff ›Helgoland‹ vor die vietnamesische Küste, das bald in den Verdacht geriet, eine Mischung aus Kneipe und Bordell zu sein.«
Henry Kissinger, Anfang der 1960er Jahre Berater der Präsidenten Kennedy und Johnson, berichtete einmal über ein Gespräch mit Erhard im Januar 1966: Der habe bekräftigt, »dass die Entsendung uniformierten Personals außer Frage stehe. Er sei bereit, mit der Ausweitung der ökonomischen Hilfe und der Ermunterung deutscher ziviler Baufirmen, sich in Vietnam zu beteiligen, ein echtes Opfer zu bringen«. Zur selben Zeit erschienen aber von CDU, SPD und FDP unisono als »Gerüchte« abqualifizierte Presseberichte, wonach statt Kampfeinheiten »Techniker- oder Sanitätergruppen der Bundeswehr als halb-, pseudo- oder quasimilitärische Einheiten nach Südvietnam entsandt werden« sollten. Doch der Traum von »kriegstüchtigen« Führungskräften der Bundeswehr von siegreichem Waffengang war erst einmal ausgeträumt. Vorerst. Heute bedarf es keiner streng geheimen Studien mehr.
Anmerkungen
1 Neues Deutschland, 19.3.1966. Von irgendwelchem Dementi ist nichts bekannt.
2 Der Große Generalstab war im Deutschen Kaiserreich mit der Planung und Führung von Kriegen beauftragt . Der Versailler Vertrag von 1919 erzwang dessen Auflösung.
3 Gemeint ist eine im Versailler Vertrag fixierte 50 Kilometer breite entmilitarisierte Zone östlich des Rheins, die 1936 von der Wehrmacht besetzt wurde.
4 Die britische Kronkolonie Zypern wurde im August 1960 zur Republik. Präsident wurde Erzbischof Makarios III. Von den Briten geschürte Spannungen zwischen türkischer und griechischer Inselbevölkerung führten ab Ende 1963 zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Internationale Proteste verhinderten eine drohende NATO-Intervention und erzwangen die Stationierung von UN-Truppen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit Zyperns.
5 Als Chef der Operationsabteilung (OA) des Heeres ab 1940 war Oberst Adolf Heusinger maßgeblich an der Ausarbeitung von »Unternehmen Barbarossa« (Überfall auf die UdSSR) beteiligt und später an der Vorbereitung der »Operation Blau« (Vorstoß nach Stalingrad). Im August 1942 befahl die OA allen Heeresgruppen im Osten die »Zusammenstellung von Jagdkommandos zur Bandenbekämpfung«. Bei dem Attentat am 20. Juli 1944 in der »Wolfsschanze« stand Generalleutnant Heusinger als »Vortragender« neben Hitler.
6 Das Amt Blank (Ende Oktober 1950 bis Juni 1955), Vorgänger des Verteidigungsministeriums, wurde eingerichtet, nachdem Anfang Oktober 1950 im Eifelkloster Himmerod ranghohe Wehrmachtsoffiziere als ein von Adenauers Kanzleramt berufener »Militärischer Expertenausschuss« mit einer »Denkschrift« den Grundstein für eine neue Armee gelegt hatten. Amtschef Exoberleutnant Theodor Blank, CDU-Mitglied und Mitbegründer des DGB, wurde erster Verteidigungsminister.
Hellmut Kapfenberger war zwischen 1970 und 1973 für den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN), die Nachrichtenagentur der DDR, und für Neues Deutschland Korrespondent in Hanoi. Er ist Autor des Buchs »Vietnam 1972. Ein Land unter Bomben. Mit Notizbuch und Kamera im Norden unterwegs«, das im vergangenen Jahr im Verlag Wiljo Heinen erschienen ist. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 30. Juli 2024 über den »Zwischenfall am Golf von Tonkin«.
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