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Aus: Ausgabe vom 14.08.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Whataboutism

Von Felix Bartels
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Wenn dich jemand beim Whataboutism erwischt

Wie auch der Begriff Äquidistanz wird Whataboutism ausschließlich als Vorwurf verwendet. Während es beim Äquidistanzvorwurf um die Disziplinierung von Leuten geht, die dem eigenen Lager angehören, richtet sich der Whataboutismvorwurf gegen Vertreter der politischen Gegenseite. Dass er entsprechend gebraucht wird, bedeutet allerdings nicht, dass er stets substanzlos sei.

Whataboutism ist ein Diskursmanöver. Als solches gehört er in den Bereich der Eristik. Seltsamerweise kommt er in Schopenhauers »Eristischer Dialektik« nicht vor, obgleich er auch damals in Anwendung gewesen sein muss. Zu naheliegend, zu praktisch scheint sein Effekt. Das Wort Whataboutism soll im Irland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommen sein. Dort benutzt für Leute, die Verbrechen der IRA mittels Verweis auf Verbrechen der britischen Regierung relativierten. Die Form des Whataboutism ist leicht beschreibbar. Dem Vorwurf der gegnerischen Seite wird mit einem »Und was ist mit …« begegnet. Der Whataboutism kann somit als politisierte Form persönlichen Streitverhaltens gesehen werden. Wenn in alltäglichen Streits ein Kritisierter mit »Du aber auch« antwortet, liegt dieselbe Struktur vor, wie wenn – zum Beispiel – eine Kritik an den Kriegen der NATO mit der Frage pariert wird, warum man sich nicht vielmehr mit den Kriegen Russlands beschäftige. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass es sich im ersten Fall um einen persönlichen Angriff und im zweiten um den Angriff auf eine Seite handelt, der man sich zugehörig fühlt.

Die Dynamik von Whataboutism und Whataboutismvorwurf hat zwei Stufen. Auf der ersten steht das Diskursmanöver selbst. Der Angegriffene verzichtet darauf, einen Vorwurf abzustreiten. Ohne diesen Verzicht wäre der Einsatz des Whataboutism gar nicht nötig. Anstelle der Abwehr folgt eine Ablenkung: Du bist / deine Seite ist auch nicht besser. Whataboutism-Manöver sind leicht zu durchschauen und werden in aller Regel umgehend als solche benannt.

Gleichwohl kann im Whataboutism mehr liegen als bloße Eristik, vorausgesetzt, der Vorwurf, die andere (Kritik übende) Seite sei nicht besser, trifft zu. Das Muster ist: A kritisiert den Umstand x. B wendet ein: Aber was ist mit y? Konsequenterweise müsste A jetzt seine Kritik auf y ausdehnen, aber das will A nicht, weil y in seinem politischen Lager liegt und die politische Schlagkraft seiner Kritik gegen x damit verlorenginge. An diesem Punkt kommt der Vorwurf des Whataboutism ins Spiel. Er soll sagen, dass Person B den Umstand y nur deshalb ins Spiel gebracht hat, um von der Kritik an x abzulenken, um die es A in diesem Moment ging.

Tatsächlich ereignet sich diese Art Gesprächsverlauf recht oft, denn doppelte Standards sind im Politischen geläufig, und Whataboutism ist ein griffiges und effektives Mittel, sie aufzudecken. Was vor allem daran liegt, dass der Kategorische Imperativ theoretisch von eigentlich allen Teilnehmern politischer Ausein­andersetzungen akzeptiert und praktisch von den meisten dieser Teilnehmer missachtet wird. Einfacher gesagt: Niemand möchte einen Vorwurf formulieren, den man auch ihm selbst machen könnte, und dennoch passiert es im Mitgerissensein einer Auseinandersetzung oder aufgrund nicht zu Ende gedachter Argumente ziemlich häufig.

Der Vorwurf des Whataboutism wird damit selbst zum Whataboutism. Man lenkt vermittels des Vorwurfs von der Kritik ab, die der Whataboutism enthält. Lenkt ab vom Kategorischen Imperativ, den man akzeptiert, aber nicht durchgehalten hat, denn das »Quod licet lovi, non licet bovi« (Was Jupiter darf, darf noch längst nicht jeder Ochse) hat sich als ebenso wenig überzeugend erwiesen wie das simple »Und wenn schon«. Entweder steht man als willkürlich da, oder man behauptet ein Sonderrecht, das man schwerlich begründen kann. Der Vorwurf des Whataboutism ermöglicht einen Ausweg aus dieser schlechten Alternative.

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