Kein »Waffenstillstand«
Von Luc Śkaille, MetzNach dem von Präsident Emmanuel Macron verordneten »olympischen Waffenstillstand« dürfte die politische Auseinandersetzung um die künftige Regierung Frankreichs nun wieder an Fahrt aufnehmen. Mit der geköpften Königin von Österreich-Lothringen, Marie-Antoinette, queerem Saufgelage, der Inszenierung französischer Multikulturalität und dem berühmten »Ah! ça ira«–Gesang, der dazu aufruft, »die Aristokraten aufzuknüpfen«, wurden am 26. Juli die Olympischen Spiele zu Paris eröffnet – mit gemischten Gefühlen endete das Milliardenspektakel am Sonntag.
Olympia war zweifelsohne eine willkommene Gelegenheit für das Macron-Lager, um von der krachenden Niederlage bei den Parlamentswahlen abzulenken. Während die alten Griechen mit dem olympischer Friede genannten Ekecheiria-Abkommen die Spiele absicherten, verordnete der Präsident einen »politischen und olympischen Waffenstillstand«. Der feine sprachliche Unterschied entspricht dem Geiste Macrons, der schon zu Covidzeiten Kriegsmetaphern bevorzugte.
Während sich die Volksfront (NFP) aus Grünen, Sozialisten, Kommunisten und der Linkspartei La France insoumise über die Weigerung empörte, den Prozess einer neuen Regierungsbildung fortzuführen, liegt der eigentliche Skandal darin, dass Macrons Schoßhund, Premier Gabriel Attal, sowie dessen Minister sich gar nicht an die »Ekecheiria« hielten. Anstatt »nur die laufenden Geschäfte« fortzuführen, wischten sie die nach zähen Verhandlungen vom NFP vorgeschlagene mögliche neue Regierungschefin Lucie Castets als Option flapsig vom Tisch und handelten eigensinnig weiter. Die arrogante Politik der eigentlich Abgewählten fand mit dem Ausbau intelligenter Überwachungssysteme und der fast täglichen Räumung von Camps von Asylsuchenden und Obdachlosen kein Ende. In fast allen Bereichen konnte die scheidende Regierung in diesem Zeitfenster als »kriegstüchtig« bezeichnet werden.
Für die Noch-Überseeministerin Marie Guévenoux ging es während der Spiele zu Verhandlungen in das krisengeschüttelte Neukaledonien, und Noch-Außenminister Stéphane Séjourné begrüßte öffentlich den von der marokkanischen Krone eingeleiteten »Autonomieplan für die Westsahara«, der die letzte Kolonie Afrikas unter die »Souveränität« Rabats stellen will. Exministerin Bérangère Couillard wurde an die Spitze des Gleichstellungsrates gesetzt. Die Chefin des Gewerkschaftsbundes kritisierte das scharf: »Während die Regierung ihre Koffer packt, ignoriert sie weiterhin das Ergebnis an den Wahlurnen und setzt eine ehemalige Ministerin neu ein.«
Auch Noch-Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire schien nichts vom Vorschlag des »Stillstandes« zu halten, selbst wenn seine Verkündung »signifikanter Kürzungen der Ministerialgehälter« ab 2025 in der Sache auch linken Zuspruch finden dürfte. Weniger im Sinne des Wahlergebnisses ist die Entscheidung einer Legalisierung von »13 aufeinanderfolgenden Arbeitstagen«. Wie die Tageszeitung Le Monde außerdem berichtete, hat die angeblich abtretende Regierung die Zulassungserneuerung der Antikorruptionsorganisation Anticor verweigert.
Ob die vom NFP designierte Kandidatin Castets mit dem am Montag an die Abgeordneten »aller republikanischen Lager« gesendeten Brief mit »fünf Prioritäten« für eine kommende Regierung wird punkten können, ist zu bezweifeln. Zwar treffen die Themen Kaufkraft (inklusive Anhebung des Mindestlohns und Annullierung der »Rentenreform«), »ökologische Weggabelung«, Bildungs- und Gesundheitspolitik und ein »gerechteres Steuersystem« im Kern den Veränderungswunsch der Wählerschaft. Doch Macron, der im präsidialen Feriendomizil von Brégançon verweilt, scheint weiterhin auf den »Extremismus der Mitte« zu setzen. In seinen Worten will er »eine rechte Persönlichkeit, die Linke anspricht, oder eine linke Persönlichkeit, die die Rechten anspricht«. So brachten Regierungskreise statt der konstruktiven Vorschläge des NFP den Politiker der Republikaner, Xavier Bertrand, und den sozialdemokratischen Expremier Bernard Cazeneuve ins Gespräch.
Der angebliche »olympische Waffenstillstand« wurde von Macrons Anhängerschaft eiskalt ausgenutzt, um ihre Politik der Verachtung von Demokratie und Sozialpolitik hinter mehr oder weniger geteiltem Patriotismus zu verstecken. Was nach den Spielen bleibt, sind die Schäden der Gentrifizierung, ein immer weiter wachsendes Überwachungsarsenal und Machtrochaden zugunsten des bourgeoisen Umfelds des Präsidenten. Wenn es so manipulativ weitergeht, dürfte diese Politik mittelfristig als Autobahnbau für die Rechte in die Geschichtsbücher eingehen, womöglich bei weiteren »Ah! ça ira«-Gesängen von links.
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