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Aus: Ausgabe vom 15.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Im Kummer vereint

Europa hat Selbstmord begangen und stinkt: Jan Koneffkes Joseph-Roth-Roman »Im Schatten zweier Sommer«
Von Werner Jung
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Da war man noch Weltmacht: Der Graben in Wien, circa 1914

Jan Koneffke macht, was er am besten kann: Er hat seinem umfangreichen Werk einen weiteren historischen Roman hinzugefügt. In einer Nachbemerkung zu dem Buch gibt er Auskunft zur Entstehungsgeschichte: Er wurde durch den Einzug in eine Wohnung in der Wiener Rembrandtstraße inspiriert, eine Wohnung, in der seinerzeit der junge Joseph Roth als Untermieter logierte, damals Student der Philosophie und Literaturwissenschaften. In Koneffkes Phantasie entstand das Bild einer Handwerkerfamilie, deren älteste Tochter Fanny sich in den Studenten verliebt, ihn wieder aus den Augen verliert, um ihm im Pariser Exil 1937/38 kurz vor Roths fürchterlichem Ende wiederzubegegnen. Poetologisch sei es ihm um ein »(ernstes) Spiel der Verquickung von Wirklichkeit und Fiktion« gegangen, um »eine sich mit Fiktionen anreichernde Wirklichkeit und eine Fiktion, die Wahrhaftigkeit anstrebt«, so Koneffke.

Das Ergebnis ist ein grandioser Erzähltext, in dem der Autor zunächst Fannys Tagebuch aus dem Jahr 1914 präsentiert, um danach ihre Erinnerungen aus dem Jahr 1938 folgen zu lassen. Der Erzählduktus adaptiert wunderbar das wienerische Idiom vor dem Ersten Weltkrieg, inklusive jiddischen Einsprengseln. Die Schusterstocher aus sozialistischem Haushalt trifft auf den schüchternen, aber auch überaus blasierten Roth, einen jungen Mann, dessen Physiognomie Fanny so beschreibt: »Die vorstehende obere Lippe ist lang und schmal, die untere, kurz und feucht, wirkt beinahe prall, wie ein feuchtes und rundliches Polster. Das verleiht seinem Mund etwas Lebensaufsaugendes.« Damit ist die tragische Konstellation der beiden so ungleichen Menschen deutlich gemacht: Hier Roth, der unzuverlässige »Womanizer«, der sich bereits zu Studentenzeiten nur für das Schreiben, den Alkohol und die Frauen interessiert. Auf der anderen Seite das verliebte Mädchen, handfest und aufgeweckt, mit klarer linkssozialistischer Gesinnung. Roth, so gesteht er Fanny einmal, »will im Rausch leben (…), in einem nie endenden Seelen- und Sinnenrausch!«.

Doch es bleibt bei versteckten Küssen im Dunkeln, und so verlieren sich die beiden aus den Augen, nachdem Roth ein anderes Zimmer bezogen hat. Bis der Zufall sie im Pariser Exil wieder aufeinandertreffen lässt. Fanny ist inzwischen im antifaschistischen »Deutschen Hilfskomitee« engagiert, während Roth – längst berühmter Schriftsteller, zugleich schwerer Alkoholiker – in Künstler- und Bohemekreisen hofhält. Bei Koneffke ist Fanny schließlich Roths letzte Begleiterin, während der seinem Ende entgegen deliriert.

Der Roman erzählt weit mehr als eine tragische Beziehungsgeschichte. Er zeichnet ein Porträt eines brillanten Schriftstellers und Zeitdiagnostikers mit all seinen Widersprüchen – ein wacher Beobachter gesellschaftlicher Verwerfungen, jeglichem Nationalismus abhold und mit seinem jüdischen Katholizismus hadernd, versucht er zugleich den Glauben an die vermeintlich besseren Zeiten der Monarchie zu bewahren und zu tradieren. »In meiner Kindheit«, sagt Roth Fanny, »ging es um den Menschen – Nation, Religion oder Rasse waren zweitrangig. Ja, im Habsburger Reich waren alle zu Hause, es bot auch noch dem eine Heimat, der heimatlos war. Eine Welt, die Europa als Vorbild dienen konnte. Leider wollte man von diesem Vorbild nichts wissen und zerhackte es auf dem Altar nationalen Wahns …«

Damit kommentiert Koneffke zugleich die aktuelle politische Gemengelage, die sich bestens mit Roth charakterisieren lässt: »Europa hat Selbstmord begangen und stinkt … Selbstmord aus nationalistischem Wahn! Wir wollen Herren in unserem Land sein – das sagen alle Nationen Europas …, und wer nicht Teil dieser Klasse von Herren ist, wird automatisch zu Diener und Knecht, den man misshandeln und aussaugen kann. Oh, vom Herren zum Herrenmenschen ist es nur ein kleiner Schritt …«

Jan Koneffke: Im Schatten zweier Sommer. Galiani-Verlag, Berlin 2024, 304 Seiten, 24 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (15. August 2024 um 08:16 Uhr)
    Meine historische Bildung und Einschätzung sagt mir auch, dass k. u. k. nicht das schlechteste Staatsmodell war. Die Erinnerung ist wach, die historischen Landschaften sichtbar, das Erbe beeindruckend. Kaum ein Nationalstaat konnte den Verlust kompensieren, sie spüren ihn noch heute und versuchen wenigstens die steinernen Zeugen zu konservieren, ob in Lemberg, Krakau (dort weniger), Rijeka, Pula, Triest, Prag, Budapest etc.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (15. August 2024 um 14:38 Uhr)
      Na ja, ob denn auch diejenigen die k.u.k. Monarchie als ganz passabel empfanden, aus deren Knochen, Blut und Schweiß all der Reichtum gesogen wurde, der Ihnen da so imponiert?

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