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Aus: Ausgabe vom 15.08.2024, Seite 12 / Thema
Befreiungskampf

Der erste Schuss

Vor 40 Jahren begann der bewaffnete Aufstand in Kurdistan gegen die türkische Staatsmacht.
Von Tim Krüger
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Ausbildung für den Befreiungskampf. PKK-Hauptquartier »Akademiya Mahsum Korkmaz« in der Bekaa-Ebene im Libanon (Aufnahme 1991)

Im September 1979 überquert eine 15köpfige Gruppe illegal die türkisch-syrische Grenze. Die Anspannung ist hoch, denn der Übertritt ist nicht ungefährlich. Auch wenn das Grenzland zwischen dem syrischen und dem türkischen Staatsgebiet Ende der 70er Jahre bei weitem noch nicht so militarisiert ist wie heute, ist eine Überquerung nur mit guter Vorbereitung und höchster Vorsicht möglich. Damals wie heute zögert der türkische Grenzschutz nicht, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Doch die kleine Gruppe von Kadern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) erreicht ihr Ziel unbeschadet. Sie folgt einer Anordnung des Parteivorsitzenden Abdullah Öcalan und ist auf dem Weg in den Libanon. Öcalan hatte sich selbst wenige Monate zuvor, am 2. Juli 1979, in das Nachbarland abgesetzt. Die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ein Jahr alte PKK hatte nach ersten Auseinandersetzungen mit kurdischen Großgrundbesitzern und Kollaborateuren des »türkischen Kolonialregimes«, wie die Partei die Herrschaft des türkischen Staates im nördlichen Teil Kurdistans definiert, auch die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf sich gezogen.

Schon kurz nach der Gründung der Partei kommt es zu Festnahmen. In blutigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Armee sowie den ebenfalls bewaffneten Feudalherren verlieren zahlreiche Militante ihr Leben. Die PKK ist zwar zu jener Zeit die am schnellsten wachsende und dynamischste revolutionäre Bewegung der Türkei und Kurdistans, doch verfügt sie noch lange nicht über eine starke Massenbasis und Verankerung in allen Teilen der Gesellschaft. Die Verluste durch Festnahmen und Tod von Führungskadern treffen die vorrangig aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammengesetzte Bewegung schwer. Um zu verhindern, dass die junge Partei schon in der Anfangsphase aufgerieben wird, ist eine Professionalisierung und vor allem auch die militärische Ausbildung der Parteimitglieder unabdingbar. Öcalan war selbst Zeuge des Militärputsches vom 12. März 1971 und hat miterlebt, wie eine revolutionäre Organisation nach der anderen unter der eisernen Walze der Junta zermalmt wurde. Nachdem die führenden Köpfe verhaftet oder hingerichtet worden waren, zerfielen die meisten Gruppen in Kürze.

Strategischer Rückzug

Öcalan ist sich sicher, dass in der Türkei ein weiterer Militärputsch bevorsteht. Die dortigen politischen Auseinandersetzungen haben ihren Höhepunkt erreicht. Paramilitärische Verbände der vom Nazikollaborateur Alparslan Türkeş gegründeten ultrarechten Bewegung »Graue Wölfe« verbreiten als Konterguerilla Angst und Schrecken und verüben zahlreiche blutige Massaker an oppositionellen Demokraten, Sozialisten oder kurdischen Aktivisten. Erst im Dezember 1978, ein paar Wochen nach der Gründung der PKK, hatten Anhänger der faschistischen Partei der nationalistischen Bewegung, der heutige Koalitionspartner von Recep Tayyip Erdoğans AKP, ein Massaker an kurdischen Aleviten in der Stadt Maraş verübt. Die Stadt galt damals als Hochburg der kurdischen nationalen Befreiungsbewegung. In mehrere Tage dauernden Pogromen wurden vor den Augen von Polizei und Militär, die dem faschistischen Terror tatenlos zusahen, mindestens 110 Menschen ermordet. Seitdem herrscht in der Türkei das Kriegsrecht und vor allem in den kurdischen Gebieten im Osten des Landes ein regelrechter Belagerungszustand.

Für Öcalan ist der Terror der von NATO-Diensten unterstützten Gruppe das Vorspiel für eine weitere Machtübernahme des Militärs. Für ihn ist klar, dass die Türkei als antikommunistischer Frontstaat im Kalten Krieg für die NATO zu wichtig ist, als dass man eine Destabilisierung des Regimes durch revolutionäre Bewegungen in Kauf nehmen könnte. Die kommende Entwicklung vorwegnehmend entschließt er sich, eine Basis im Ausland zu errichten, die der immer noch fragilen Bewegung als Rückzugsort dienen soll. Über die Vermittlung von kurdischen Sympathisanten im Norden des Landes gelangt Öcalan im Sommer 1979 in die syrische Hauptstadt Damaskus und wendet sich an die Organisationen der palästinensischen Befreiungsbewegung. Nach anfänglichen Absagen stößt Öcalan bei Nayef Hawatmehs Demokratischer Front zur Befreiung Palästinas auf offene Ohren. Die Gruppe bietet den kurdischen Partisanen an, sich an der Ausbildung in den palästinensischen Camps in der Bekaa-Ebene zu beteiligen und in den vorgeschobenen Posten an der Grenze zu den israelisch besetzten Gebieten erste militärische Erfahrungen zu sammeln. Diese taktische Weitsicht bewahrt die Bewegung später vor der vollständigen Vernichtung.

Grüppchenweise beginnt der Rückzug von PKK-Kadern. Die kleine Gruppe von 15 Militanten zählt zu den ersten, die nach Abdullah Öcalan die Lager der palästinensischen Befreiungsbewegung im Südlibanon erreichen. Unter ihnen befindet sich auch der damals 23jährige Mahsum Korkmaz, der am 15. August 1984 den ersten Vorstoß der Guerilla anführen wird. Der junge Mann aus der Region Farqîn (tr. Silvan) stieß bereits 1976 in der Industriestadt Êlih (tr. Batman) zu der Gruppe, aus der am 27. November 1978 die PKK hervorgehen sollte. Enttäuscht von der Haltung »reformistischer und sozialchauvinistischer Gruppen« der bestehenden Linken und beeindruckt von der Radikalität und der »avantgardistischen Natur« der »apoistischen Bewegung«, wie die Gruppe nach der Kurzform von Öcalans Vorname – »Apo« – (tr. Apocular) auch genannt wurde, schloss sich Korkmaz unter dem Kampfnamen Egîd der Befreiungsbewegung an. Auch er geht als Rekrut in die Ausbildungslager der palästinensischen Bewegung im Südlibanon, wo in diesen Jahren nicht nur Kämpfer der PKK, sondern auch Mitglieder vieler weiterer bewaffnet kämpfender Gruppen von Lateinamerika bis in den Mittleren Osten im Umgang mit Waffen und Sprengstoff sowie den grundlegenden Taktiken des Guerillakrieges unterwiesen werden.

Der Aufbau der Guerilla

Die ersten Absolventen kehren bereits im Juni 1980 nach Nordkurdistan zurück. Der Plan ist, an drei Fronten – dem Torosê-Gebirge, den Bergen Dêrsims sowie in der Region Botan nahe der irakischen Grenze – mit dem Aufbau von Guerillaverbänden zu beginnen. Gemeinsam mit Kemal Pir, einem Revolutionär aus der Schwarzmeerregion und Führungskader der ersten Stunde, ist Korkmaz für die Botan-Front rund um die Stadt Sêrt (tr. Siirt) verantwortlich. Doch noch bevor ihre Anstrengungen Früchte tragen können, wird Kemal Pir am 12. August bei einer Straßensperre des türkischen Militärs verhaftet. Bei der Festnahme fallen der Staatsgewalt Planungsdokumente über den Aufbau der Guerilla in die Hände. Egîd entkommt mit Mühe und Not. Er setzt sich gemeinsam mit weiteren PKK-Kadern ein weiteres Mal in den Libanon ab und entgeht damit nur knapp dem Militärputsch. Als das türkische Militär tatsächlich am 12. September 1980 die Macht ergreift und General Kenan Evren eine Junta installiert, wird der im Land verbliebene Teil der PKK schwer getroffen. Das organisatorische Netzwerk wird nahezu vollständig zerschlagen, der Großteil der Kader und Sympathisanten wird verhaftet und in Militärgefängnissen eingekerkert, zahlreiche Militante kommen bei Feuergefechten mit putschistischen Truppen ums Leben. Der Versuch, eine bleibende Guerillabewegung in Nordkurdistan zu verankern, scheitert nahezu vollständig.

Im August 1982 behandelt der 2. Parteikongress der PKK erneut die Frage des bewaffneten Kampfes. Anders als viele andere Organisationen der damaligen revolutionären Bewegung in der Türkei entscheidet sich die PKK gegen das Exil in Europa. Zwar werden schon zum damaligen Zeitpunkt erste Unterstützungsstrukturen in der kurdischen Diaspora, zum Beispiel in der BRD geschaffen, doch der Hauptfokus der Organisation soll auf der »Rückkehr ins Land« liegen. Angesichts der brutalen Herrschaft der Militärjunta ist an eine offene oder wenigstens halblegale Arbeit und Agitation in der Bevölkerung überhaupt nicht zu denken. Die Rückkehr ins Land kann nur in Form von bewaffneten Propagandabrigaden erfolgen, die als Vorhut gegen Großgrundbesitzer, Militärstützpunkte, staatliche Institutionen, Folterer und Kollaborateure vorgehen. Mahsum Korkmaz wird gemeinsam mit Mehmet Karasungur in das Dreiländereck Iran-Irak-Türkei entsandt, um in den entlegenen und schwer zugänglichen Bergregionen um den Fluss Zap Lager für die zukünftige Guerillaarmee auszuheben und mit den Vorbereitungen für den bewaffneten Kampf zu beginnen. Der Anfang gestaltet sich äußerst schwer. Weder die in den nordirakischen Bergen aktive Kommunistische Partei des Irak, noch die Pêşmerge-Verbände der Demokratischen Partei Kurdistans unter Führung Mesûd Barzanîs leisten den unbeholfenen Guerillaeinheiten Unterstützung.

Weder verfügt das paar Dutzend Partisanen über Wissen, wie mit den Widrigkeiten der Natur umzugehen ist, noch sind ausreichend Nahrungsmittel und Ausrüstungsgegenstände vorhanden. Die wenigen oft veralteten Gewehre waren zuvor auf dem Schwarzmarkt erworben worden, und die ortsansässige Bevölkerung unterstützt die bis dahin kaum bekannte Gruppe nur sehr bedingt. Die Ausbildung in den palästinensischen Camps erbrachte zwar die richtige Handhabung von Feuerwaffen, allerdings unterscheiden sich die topographischen Bedingungen der Berge Kurdistans von denen des Libanon erheblich. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz kann die Gruppe ihre Vorbereitungen erfolgreich abschließen.

Der 15. August

Nach langer Aufklärung und detaillierter Planung dringen in den Abendstunden des 15. August 30 Guerillakämpfer unter der Führung von Mahsum Korkmaz in die Kleinstadt Dîhe (tr. Eruh) vor. Parallel dazu greift eine weitere Einheit Militäreinrichtungen in der Ortschaft Şemzînan (tr. Şemdinli) an. Im Handstreich nimmt die Einheit die Kaserne und das Offizierskasino von Dîhe ein, beschlagnahmt Waffen und Ausrüstungsgegenstände und setzt das lokale Verwaltungsgebäude in Brand. Über die Lautsprecher des Minaretts der örtlichen Moschee verlesen die Kämpfer das Proklamationsflugblatt der Befreiungskräfte Kurdistans (Hêzên Rizgariya Kurdistanê, HRK). »Die HRK verfolgt das Ziel, den Kampf unseres Volkes um nationale Unabhängigkeit, eine demokratische Gesellschaft, Freiheit und Einheit unter Führung der PKK gegen den Imperialismus, den türkischen Kolonialfaschismus und ihre einheimischen Lakaien bewaffnet zu führen«, heißt es in dem kurzen Schriftstück.

Zwar führt der Angriff in Şemzînan im Gegensatz zur Aktion in Dîhe zu erbitterten Kämpfen mit den türkischen Kräften, doch im Ergebnis verlaufen beide Operationen, die als »Offensive vom 15. August 1984« in die Geschichtsschreibung der PKK eingehen werden, erfolgreich. Die Guerillaeinheiten können sich ohne Verluste und mit zahlreichen Beutewaffen sicher in die Berge zurückziehen. Wenngleich am 15. August nur wenige Schüsse gefallen sind, sorgt die Aktion in allen Teilen der Türkei und selbst darüber hinaus für einen enormen Widerhall. Ungeachtet der verhältnismäßig geringen militärischen Bedeutung, die die kurzfristige Operation in beiden Städten hatte, beenden die Kugeln der Guerillaeinheiten die bleierne Stille, die über der Türkei und Kurdistan nach dem Militärputsch lag. Der 15. August ist ein erstes Aufbäumen nach der nahezu vollständigen Niederschlagung der revolutionären Kräfte im September 1980 und verleiht dem Angriff damit eine enorme psychologische Bedeutung. Bis dahin hatte die PKK zahlreiche ihrer besten Kader und Mitglieder des Zentralkomitees, darunter auch Kemal Pir, im Widerstand gegen die Folter in den Militärgefängnissen verloren, und es war durchaus fraglich, ob es der Organisation noch einmal gelingen würde, sich aufzurichten. Nicht umsonst wird der 15. August auch heute noch von der PKK und großen Teilen der kurdischen Bevölkerung, als »Festtag der Wiederauferstehung« gefeiert.

Unter Berufung auf den antikolonialen Theoretiker, Psychologen und Revolutionär Frantz Fanon spricht die PKK von der »Theorie des ersten Schusses«. Demnach feuere der kolonisierte Mensch den ersten Schuss nicht nur gegen den Soldaten der Kolonialmacht, sondern vor allem gegen die eigene kolonisierte Persönlichkeit ab. Die Kugel töte nicht nur den Besatzer, sondern der Gewaltakt breche in erster Linie die psychologische Herrschaft des Kolonialismus in den Köpfen der Unterdrückten. Im Kampf gegen den Kolonisator erobere sich der Kolonisierte zuallererst sein ihm vom Kolonialismus abgesprochenes Menschsein zurück und gelange so zu Selbstvertrauen und Handlungsmacht. Anlässlich des 35. Jahrestags der Offensive erklärte der Kovorsitzende der Dachorganisation der PKK, der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans, Cemîl Bayik: »Dieser Schuss musste fallen, weil das kurdische Volk von der Auslöschung bedroht war.« Nach einer seit der Gründung der türkischen Republik jahrzehntelangen Verleugnungs- und Assimilationspolitik sowie zahlreichen Massakern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, habe sich das kurdische Volk »in einer Art Todesschlaf« befunden. Dank der »ersten Kugel« seien die »Kurden zurückgekehrt aus der Sklaverei, aus Schwäche, Gefangenschaft und Tod. (…) Der erste Schuss richtete sich«, so Bayik, »gegen die Besatzer und das System der kapitalistischen Moderne«.

Die PKK erwartet, dass die Aktionen ihre propagandistische Wirkung nicht verfehlen und in den ländlichen Regionen, vor allem bei der Jugend, großen Anklang finden würden. Nach ihrer Auffassung lehnt die Bevölkerung die koloniale Herrschaft des türkischen Staates gemeinhin ab, verfüge allerdings weder über Wissen und Methode noch über das nötige Selbstvertrauen für einen organisierten Kampf. Die avantgardistische Aktion der Guerilla soll als Katalysator wirken und das an sich vorhandene Bewusstsein über die eigene Unterdrückung, das historisch in periodisch wiederkehrenden Rebellionen und gescheiterten Aufständen zum Ausdruck gekommen war, in einen organisierten und bewussten nationalen Befreiungskampf überführen. Die Rechnung geht auf, und tatsächlich wachsen die anfangs kleinen bewaffneten Propagandaeinheiten innerhalb kürzester Zeit zu einer wahrhaftigen Guerillaarmee an. Schon auf ihrem 3. Kongress beschließt die PKK im Oktober 1986 daher die Auflösung der HRK und die Gründung der Volksbefreiungsarmee Kurdistans (Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan, ARGK). Die Befreiungsstrategie der PKK orientiert sich dabei an Mao Zedongs Konzept des langandauernden Volkskrieges, und der Namenswechsel sollte nicht zuletzt ausdrücken, dass sich die Guerilla auf dem Weg aus der »strategischen Defensive« hin zu einem Gleichgewicht mit den gegnerischen Truppen befinde.

Während der türkische Generalstab schon in den Tagen nach dem Angriff verlautbaren lässt, bei den Guerillakämpfern habe es sich lediglich um einige »Plünderer« gehandelt, die bereits »umzingelt« seien, gelingt es der Guerilla laut eigenen Angaben allein im ersten Jahr, ihre Aktionen auf eine »Kriegsfront« von 1.000 Kilometer Länge auszuweiten. Der parallel voranschreitende Aufbau der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK), die mit ihren Massenorganisationen für Werktätige, Frauen, Jugendliche sowie kurdische Kleinunternehmer ab 1985 im In- und Ausland eine breite Unterstützungsbasis für die Guerilla errichtet, legt auch das Fundament für die ab 1989 beginnenden Volksaufstände, den sogenannten Serhildan. Trotz der Tatsache, dass der türkische Staat ab 1985 mit dem Aufbau von »Dorfschützereinheiten« beginnt lokaler Verbände mit der türkischen Regierung kollaborierender kurdischer Stämme, die nach dem Vorbild der Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen aus dem Trikont gebildet werden – und versucht, die Bevölkerung zu spalten, um der Guerilla den Nährboden zu entziehen, kann sich die Befreiungsbewegung selbst in den (Groß-)Städten Nordkurdistans verankern. Die Massenaufstände zu Beginn der 90er Jahre, die Städte wie Cizîr, Amed (tr. Diyarbakir), Silopî, Nisebîn und viele weitere teils tagelang erschüttern, beweisen, dass aus den kleinen, in den Bergen verschanzten Guerillagruppen eine nicht mehr zu ignorierende Volksbewegung geworden war. Angesichts der Massenmobilisierungen war die türkische Republik zum ersten Mal in ihrer Geschichte gezwungen, auch die Existenz legaler prokurdischer Parteien wie der 1990 gegründeten Arbeitspartei des Volkes HEP zumindest zeitweilig zu tolerieren.

Erfolge des Kampfes

Die PKK betrachtet ihren seit 40 Jahren dauernden bewaffneten Kampf als den 29. kurdischen Aufstand in der Geschichte der türkischen Republik. Dieser 29. Aufstand unterscheidet sich von den vorausgegangenen Erhebungen, die sich mehrheitlich unter der Führung kurdischer Stammesoberhäupter und Aristokraten entwickelt hatten. Es ist der erste Aufstand, der nicht auf eine Region begrenzt blieb, sondern zum ersten Mal nationale Dimensionen annahm. Die PKK stellt damit bis heute die einzige kurdische Kraft dar, gleich ob feudal, bürgerlich-nationalistisch oder sozialistisch ausgerichtet, die es vermochte, Bevölkerungsteile aus allen kurdischen Gebieten in Syrien, der Türkei, dem Iran und dem Irak hinter sich zu vereinen. Zudem ist es der PKK gelungen, sich an die Umbrüche der Zeit anzupassen, schnell auf Veränderungen zu reagieren und, wo nötig, auch politische Flexibilität und Verhandlungsbereitschaft zu beweisen. Auch wenn alle Versuche einer politischen Lösung der kurdischen Frage seit 1993 an der Haltung der jeweiligen türkischen Regierungen scheiterten, haben die Jahrzehnte des Kampfes dennoch nennenswerte politische Errungenschaften erbringen können.

Auch wenn der Krieg in Kurdistan wohl auch in seinem 41. Jahr noch weiter andauern wird, haben die vergangenen Jahrzehnte des Kampfes durchaus große Errungenschaften mit sich gebracht. Wenn in Erdoğans Türkei eine starke und selbstbewusste kurdische parlamentarische Politik existiert, ein breites Netz an unterschiedlichen Medienorganen, Nachrichtenagenturen und Fernsehsendern dabei allen Zensurmaßnahmen trotzt und eine einflussreiche Gegenöffentlichkeit geschaffen wurde, die kurdische Kunst, Kultur und Sprache nach Jahrzehnten von Verboten und Verdrängung aus dem öffentlichen Raum zu neuer Blüte gelangt ist, so ist dies nicht zuletzt auch Ergebnis eines 40 Jahre andauernden Kampfes, der mit dem 15. August 1984 in seine heiße Phase eintrat. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die 2012 aufgebaute demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ohne die Erfahrungen der kurdischen Guerilla in den Bergen undenkbar gewesen wäre. Schließlich waren es kampferprobte Verbände der Volksverteidigungskräfte HPG, wie der Name der PKK-Guerilla heute lautet, die 2014 dabei halfen, die Dschihadisten des »Islamischen Staates« in Kobanê zurückzuschlagen, und die mit ihren Kenntnissen einen wichtigen Anteil an der Ausbildung und Professionalisierung der Volks- und Frauenverteidigungskräfte YPG und YPJ hatten. Auch die Selbstorganisierung der kurdischen Frauen hat ihren Ursprung in den ersten eigenständigen Fraueneinheiten der Guerilla in den 1990er Jahren.

Die PKK hat zwar mit ihren Ideen und politischen Ansätzen Anstoß zur Gründung zahlreicher politischer Parteien in allen Teilen des kurdischen Siedlungsgebietes gegeben, ist allerdings in ihrem Kern bis heute eine Guerillabewegung geblieben. Herz und Hirn der Bewegung liegen damit weder in den Städten noch im Exil, sondern auch weiterhin in den Tälern und Höhlen entlegener Berge. Die türkische Armee wagt seit 2017 mit einer ganzen Reihe von militärischen Operationen den Vorstoß in die von der Guerilla kontrollierten Gebiete in den südkurdischen Bergen, bisher allerdings ohne den erhofften Erfolg. Auch die jüngst begonnene Invasion in der Region Metîna im Nordirak verläuft nicht so glatt, wie die türkische Militärführung die Öffentlichkeit gerne glauben lässt. Der Grund für die Schwierigkeiten, mit denen die türkischen Truppen zu kämpfen haben, liegt in der Neuorganisierung der kurdischen Guerilla seit 2018 und dem Einsatz modernster Technik. Murat Karayılan, Generalkommandant der Guerilla, spricht dabei von der »Guerilla des 21. Jahrhunderts«.

Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. Juli 2024 zum wirtschaftlichen und militärischen Engagement der Türkei in Afrika.

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