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Aus: Ausgabe vom 15.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kurdischer Freiheitskampf

»Der Staat lehnt unsere Identität als Kurden ab«

Über zweierlei Recht in der Türkei und die Notwendigkeit eines Friedensdialogs mit Abdullah Öcalan. Ein Gespräch mit Çağlar Demirel
Von Anna Orsetti
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Siegesgewiss trotz alledem: Anhängerinnen und Anhänger der DEM-Partei auf dem Newrozfest in Diyarbakır (21.3.2024)

Die türkische Regierung hatte ab dem 2. August mehr als eine Woche lang den Zugang zu Instagram gesperrt. Sie wirft der Plattform »digitalen Faschismus« vor, nachdem dort Beileidsbekundungen zum Tod des Hamas-Politikers Ismail Hanija gelöscht worden waren. Instagram, so der Kommunikationschef von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, respektiere die Meinungsfreiheit türkischer Bürger nicht.

Sie vsaßen wegen Ihrer politischen Arbeit, zunächst als Bürgermeisterin von Derik, dann als Parlamentarierin der HDP, insgesamt acht Jahre im Gefängnis in der Türkei. Da ging es auch um Meinungsfreiheit. Wie beurteilen Sie diesen neuen Schritt der Regierung und generell die Rechtslage im Land?

In der Türkei gibt es nicht nur im digitalen Bereich ein Demokratieproblem. Die Gedanken- und Meinungsfreiheit steht unter großem Druck. Es gibt keine unabhängige Justiz mehr, sondern nur noch die Macht eines einzelnen Mannes. Wir Kurdinnen und Kurden leiden immer noch unter vielen Sprach- und Bildungsverboten. Nicht einmal einfache kurdische Wörter werden toleriert: Beschriftungen für Fußgängerüberwege auf Kurdisch wurden auf Anweisung des Innenministeriums in Diyarbakır und vielen kurdischen Provinzen entfernt. In den letzten Tagen hat die Polizei in kurdischen Städten und auch in Istanbul Frauen, Jugendliche und ältere Menschen, die auf Hochzeiten tanzten und Lieder sangen, festgenommen und gefoltert, mit dem Vorwurf, der Tanz sei »Terrorpropaganda für die PKK«. Wieder einmal haben wir es mit einem türkischen Staat zu tun, der unsere Identität als Kurden ablehnt. Von den 1990er Jahren bis heute haben wir einen sehr hohen Preis für eine ganze Reihe von Rechten bezahlt, die uns heute verwehrt bleiben.

Der DEM-Partei als Nachfolgerin der aufgrund eines Verbotsverfahrens inaktiven HDP gelang es, im März wieder zahlreiche Rathäuser in den kurdischen Landesteilen zu gewinnen. Was war die Antwort des Staates?

Gegenüber Kurden wird auch das Gesetz unterschiedlich angewendet, wie die Kommunalwahlen zeigen: In den letzten acht Jahren wurden gewählte kurdische Bürgermeisterinnen und -meister regelmäßig abgesetzt und ins Gefängnis gesteckt, die Städte wurden von Zwangsverwaltern regiert, die von Erdoğan geschickt wurden. Aber die Verfassung gibt ihm dazu kein Recht. Nach türkischem Recht muss bei der Absetzung eines Bürgermeisters der Stadtrat und nicht Ankara über den Nachfolger entscheiden. Dies geschah im April in Kepez in der Provinz Antalya nach der Verhaftung eines CHP-Bürgermeisters: Es war der Stadtrat, der einen neuen Bürgermeister ernannte. Das Gesetz funktioniert also anders, je nachdem, ob man Kurde oder Türke ist. Nur die HDP und ihre Nachfolgepartei DEM werden diesen gesetzwidrigen Verfahren ausgesetzt und Kurden damit ihres Willens beraubt.

Ende März hat die DEM bei den Wahlen in 78 Gemeinden gewonnen. In der kurdischen Stadt Hakkâri wurde der Bürgermeister rechtswidrig verhaftet und durch einen Zwangsverwalter ersetzt, aber der Stadtrat erkennt diesen Beschluss bis heute nicht an. Das gleiche wurde in der Stadt Van versucht, doch die Menschen gingen auf die Straße und der Versuch scheiterte.

Die kemalistische Republikanische Volkspartei, CHP, ist die größte Oppositionspartei. Bei den Kommunalwahlen dieses Jahr hat sie nicht nur in Istanbul und Ankara, sondern auch in einigen ehemaligen Hochburgen der Regierungspartei gewonnen. Im Gegensatz zu Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP, ist die CHP zwar säkular orientiert, aber immer noch mit dem Nationalismus der Tradition des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk verbunden. Wenn die CHP bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen sollte, würde sich die Situation für Kurden ändern?

Auf einer Seite haben wir eine kemalistische Partei, auf der anderen Seite eine islamistische. Es gibt keinen großen Unterschied, wenn es um Kurdinnen und Kurden geht, CHP und AKP haben sich die Hand gereicht. Hätten Oppositionsparteien wie die CHP nein zu der antikurdischen Politik gesagt, wäre das Land heute vielleicht nicht an diesem Punkt. Wichtig ist es für uns, über Rechte und Demokratie zu sprechen. Wir können uns mit denjenigen an einen Tisch setzen, die die kurdische Frage lösen, Rechte in bezug auf Sprache und Identität gewähren und die Verfassung in diesem Sinne ändern wollen. Bei den letzten Kommunalwahlen haben wir in einigen Gemeinden die CHP unterstützt, die dann auch mit Unterstützung der Kurden gewonnen hat, weil dieser Faschismus von Erdoğan gestoppt werden muss.

Kürzlich besuchten die DEM-Kovorsitzenden die beiden Filmemacherinnen Çiğdem Mater und Mine Özerden, die seit 2018 wegen der Gezi-Park-Proteste von 2013 im Gefängnis sitzen, und kritisierten die Isolation der politischen Gefangenen in der Türkei. Im Mai endete der sogenannte Kobani-Massenprozess gegen mehr als 100 kurdische Politiker mit hohen Strafen für viele der Angeklagten, darunter die ehemaligen HDP-Kovorsitzenden Selahattin Demirtaș und Figen Yüksekdağ, die zu mehr als 30 Jahren verurteilt wurden.

Viele gewählte Politiker sitzen im Gefängnis. Und viele politische Gefangene haben ihre Strafe verbüßt, 30 Jahre im Gefängnis verbracht, aber sind immer noch nicht frei. Diejenigen, die nicht im Gefängnis gelandet sind, mussten in Europa Asyl suchen. Warum können unsere Politiker nicht frei in ihrem eigenen Land leben? Wenn wir im Parlament kurdische Worte benutzen, werden die Mikrofone ausgeschaltet: Wir würden eine unbekannte Sprache sprechen, heißt es.

Aber wir sind hier, wir sind Kurdinnen und Kurden, und wir haben doch eine Sprache. Mit dem Friedensprozess von 2013 bis 2015 und den Verhandlungen zwischen der kurdischen Bewegung und der türkischen Regierung haben wir gesehen, dass ein Dialog möglich ist. Heute jedoch wird die gesamte Wirtschaft der Türkei für eine Kriegspolitik eingesetzt, die alle verarmt, Türken und Kurden. Und das ist auch ein Problem für Frauen. Es findet ein Massaker statt, Tag für Tag steigt die Zahl der Frauenmorde. Wir haben es mit einer Macht zu tun, die Frauen nicht anerkennt, die von ihnen verlangt, zu Hause zu bleiben, die über Nacht aus der Istanbuler Konvention zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt ausgetreten ist. Aus diesem Grund kämpfen wir kurdischen Frauen mehr als andere.

Ende Juli unterzeichneten 69 Nobelpreisträger einen Appell für die Freilassung des Gründers der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Abdullah Öcalan, der seit 1999 auf der Insel Imrali im Marmarameer in Einzelhaft sitzt und seit 2021 keinen Kontakt zu seiner Familie und seinen Anwälten hat. Wie könnte das zu einer Lösung der kurdischen Frage beitragen?

Es besteht die Notwendigkeit, den Dialog wiederaufzunehmen. Das kurdische Volk fordert, dass die verschärfte Isolation von Herrn Abdullah Öcalan aufgehoben und dass er Gesprächspartner ist. Das Hauptproblem geht von dort aus: Der Ort, an dem das Gesetz am meisten verletzt wird, ist Imrali. Nach dem Gesetz darf ein Gefangener seine Familie, seine Freunde und seinen Anwalt sehen, aber seit vielen Jahren wird Abdullah Öcalan das verwehrt.

Die Türkei hat erklärt, der Völkermordanklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof beizutreten. Damit versucht Erdoğan offensichtlich, die palästinensische Sache zu instrumentalisieren, um in der islamischen Welt Anerkennung zu gewinnen. Jüngst haben islamistische Gruppen selbst hier in Diyarbakir ein Gebet für Hanija organisiert. Wie kann die kurdische Frauenbewegung, der Sie ja angehören, ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk zum Ausdruck bringen, um Islamisten nicht das Feld zu überlassen?

Als kurdische Frauenbewegung stehen wir an der Seite jeder Frau, die unterdrückt und Gewalt ausgesetzt ist, wo immer sie sich befindet. Wir stehen auch auf der Seite des palästinensischen Volkes und der palästinensischen Frauen, und wir wissen, dass es die Frauen sind, die am meisten vom Krieg betroffen sind, egal wo er stattfindet. Der Islamismus ist ein Problem. Wir kämpfen für Demokratie und sind davon überzeugt, dass jeder das Recht auf eigene Sprache, Kultur, Identität, Glauben hat und dies demokratisch wahrnehmen soll. Wir akzeptieren daher nicht, dass der Islam und andere Religionen Frauen in irgendeiner Weise unterdrücken. Zu palästinensischen Frauen haben wir Verbindungen. Wir haben internationale Konferenzen zu weiblichen Gefangenen organisiert. Dort war eine Vertreterin der palästinensischen Bewegung, Kifah Afifi, ebenfalls anwesend, um über die Rechte der Frauen in Europa, im Nahen Osten und in Palästina zu diskutieren.

Wie organisieren sich die Frauen in Diyarbakır nach dem Kommunalwahlsieg der DEM neu, nachdem die Großstadt nach der Verhaftung der Kobürgermeister in den Jahren 2016 und 2019 acht Jahre lang unter Zwangsverwaltung der Regierung stand?

Die Komitees der Frauenbewegung, die sich mit Rechten, Wirtschaft und Gewalt beschäftigen, haben ihre Arbeit wiederaufgenommen. Wir haben viel zu tun und tauschen Erfahrungen aus, um Probleme zu lösen. Die kurdische Frauenbewegung ist nicht neu. In der Vergangenheit haben kurdische Frauen viel Gewalt von Männern und Regierungen erlitten, weshalb sie sich zusammenschlossen, um in Kurdistan und der Türkei dagegen zu kämpfen. Wir werden immer mehr, im Nahen Osten und auch in Europa. Wir sagen: Jin, Jiyan, Azadi!

Çağlar Demirel (1969 in Kulp/Diyarbakır geboren) wurde 2009 zur Bürgermeisterin der Stadt Derik in der Provinz Mardin gewählt. 2011 wurde sie zusammen mit rund 100 weiteren Politikern und Aktivisten im Rahmen der sogenannten KCK-Verfahren inhaftiert. Ihre Aktivitäten für die kurdische Frauenbewegung wurden ihr von den Ermittlungsbehörden als Unterstützung des aus der Arbeiterpartei Kurdistans PKK hervorgegangenen Dachverbandes KCK ausgelegt. Nach ihrer Haftentlassung 2014 wurde Demirel 2015 in Diyarbakır für die linke Demokratische Partei der Völker (HDP) ins Parlament gewählt und dort zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Doch im Dezember 2016 wurde sie erneut unter dem Vorwurf der Propaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Untersuchungshaft genommen und im folgenden Jahr zu einer Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt. Im September 2021 ordnete das Kassationsgericht eine Neuverhandlung an und Demirel kam frei. Sie gehört heute der HDP-Nachfolgerin Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM) an, in der sie wegen laufender Gerichtsverfahren kein offizielles Amt bekleidet, und ist in der Frauenbewegung aktiv. (jW)

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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