Faesers Rechtsverwesung
Von Arnold SchölzelAm Donnerstag hatte Nancy Faeser ihre Sprache wiedergefunden und erklärte, das Leipziger Urteil vom Vortag sei »ein ganz normaler Vorgang«. Das Bundesverwaltungsgericht hatte vorläufig ihre Verbotsverfügung gegen das Magazin Compact aufgehoben. Die Richter hatten das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit gegen das Recht von Faschisten auf Verletzung der Menschenwürde und auf eine verfassungsfeindliche Haltung abgewogen und zugunsten der Grundrechtsausübung entschieden – bis zur Hauptverhandlung.
Die Tendenz, Grundrechte bei Behördenentscheidungen bedenkenlos zu missachten und den Beamtenapparat, die Exekutive zugleich als Gesetzgeber und Justiz entgegen allen Erzählungen von Gewaltenteilung wirken zu lassen, wird von Soziologen und Staatsrechtlern in den liberalen bürgerlichen Demokratien seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts immer wieder beobachtet. Ihre Betrachtungen laufen meist auf pessimistische Klagen über allgemeinen Verfall und individuelle Ohnmacht hinaus. Marxisten wie Rudolf Hilferding oder Lenin konstatierten eher trocken, dass Monopolkapital nicht Freiheit, sondern Herrschaft will.
Aber es gibt Unterschiede. In Krisen- und Kriegsphasen des Kapitalismus wie in der Gegenwart steigt die Neigung, die eigenen Rechtsregeln systematisch außer Kraft zu setzen. Gegenüber der Arbeiterbewegung und speziell Kommunisten gilt das jederzeit. Für die BRD belegen das KPD-Verbot, Radikalenerlass und massenhafte »Abwicklung« von DDR-Funktionsträgern per Verordnung und Gericht. Auf ernsthafte juristische Herleitungen wurde in jedem Fall verzichtet, nicht zuletzt beim Urteil gegen jW: Wer keinen Richter des Volksgerichtshofes zur Verantwortung zog, kann das nur durch für jede Willkür offene Verfolgung von Linken wiedergutmachen. Für DDR-Bürger galt nach 1990 das Rückwirkungsverbot nicht, der Anschluss machte deren Staat wirklich zu einer »Zone« innerhalb der Bundesrepublik, nämlich einer minderen Rechts.
Das ging so durch und hatte Konsequenzen: Juristische Verlotterung ist ein Markenzeichen dieses Staates geworden. Der DDR-(Geheim)diplomat und spätere »Dissident« Hermann von Berg definierte ihn u. a. in dieser Zeitung vor mehr als 20 Jahren daher als »verwesenden Rechtsmittelstaat«: Recht ist nicht zu erwarten, nur ein Urteil. Die Juristin Faeser sieht es daher richtig, wenn sie ihre besonders auffällige Inkompetenz – von Gesichtserkennung bis Russenschnüffelei und freies Wohnungstüreintreten – auch im Compact-Fall als ganz normal bezeichnet. Die Kritik auch konservativer Juristen an ihr geht nicht über ein bedenkliches Kopfschütteln hinaus. Ihr Auftrag, das Verwesen des Rechts voranzutreiben, resultiert schließlich aus dem Krisenzustand der Gesellschaft. Nebenbei hilft sie mit der Compact-Blamage der AfD. Inzwischen ein so normaler SPD-Vorgang wie Herstellung von Kriegstüchtigkeit und Raketenaufstellung.
Siehe auch
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (19. August 2024 um 10:06 Uhr)Was ist nun schlimmer: Die Inkompetenz von Frau Faeser oder das Gericht, das hier für Meinungs- und Pressefreiheit für Faschisten eintritt? Seltsam, wie in diesem Kommentar KPD-Verbot und das Verbot von Compact in einem Atemzug genannt werden. Sitzen jetzt plötzlich Antifaschisten und Faschisten in einem Boot, gegen die da »oben«, gegen das »Regime«. Elsässer und Co, die fleißig an den sogenannten Querfront-Plänen basteln, bald am Ziel ihrer Träume? Interessantes zum Gericht, dessen Urteil Freude bei Deutschlands Rechten auslöst. Präsident des Bundesverwaltungsgerichts ist Andreas Korbmacher. Wikipedia: »Während seines Studiums wurde Korbmacher 1980 Mitglied der katholischen Studentenverbindung KDStV Borusso-Saxonia Berlin im CV und von 1998 bis 2010 Vorsitzender der Altherrenschaft (…) Unter dem Thema ›Der Österreichische Ständestaat – Engelbert Dollfuß zwischen Sozialismus und Nationalsozialismus‹ richtete die Verbindung vorn 7. bis 11. Juni 1984 ein zeitgeschichtliches Seminar mit fast 80 Teilnehmern aus Österreich und der Bundesrepublik Deutschland aus.« Unter dem Austrofaschisten und »Arbeitermörder« Dollfuß wurden in Österreich die Organisationen der Arbeiterklasse verboten. Das alles brauchte Hitler vier Jahre später nicht mehr zu tun.
Mehr aus: Ansichten
-
Trauzeuge des Tages: Wolf Biermann
vom 16.08.2024