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Aus: Ausgabe vom 16.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Film

Keiner von der Bourgeoisie

Eine lebendige Erinnerung an Kurzfilmklassiker Karl Valentins
Von Jürgen Roth
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»Du, was macha mia jetzt?« – »Nix mehr!« (»Im Photoatelier«)

Karl Valentin, ein von Ängsten geplagter Mensch, mag ein sogenannter problematischer Charakter gewesen sein. Seiner Bühnenpartnerin Liesl Karlstadt und einigen Zeitgenossen hat er – im Nazifaschismus – wohl ein paar ziemlich hässliche Dinge angetan.

Sicher ist dessenungeachtet: Der Künstler Karl Valentin bekäme heute keinen Fuß mehr aufs Brettl. Ein Genie wie er wäre in der fernsehmedial verseuchten und ästhetisch und politisch grauenhaft uniformen, konformistischen, auf die staatliche Autorität, die sie weitgehend finanziert, fixierten Satireszene ein Paria. Kein Theaterleiter, kein Regisseur öffnete ihm die Tür.

Brecht verehrte ihn, lernte von ihm, trat mit ihm zusammen auf und drehte mit ihm 1922 den surrealistischen Horrorstreifen »Mysterien eines Friseursalons«. Manchen gilt er als erster Splattermovie der Geschichte.

Valentin sei, schrieb Brecht, »ein durchaus komplizierter, blutiger Witz«. Und er fuhr fort: »Es ist nicht einzusehen, inwiefern Karl Valentin dem großen Charlie, mit dem er mehr als den völligen Verzicht auf Mimik und billige Psychologismen gemein hat, nicht gleichgestellt werden sollte.«

Tatsächlich entdeckte Valentin den Film vor Chaplin. Sein erster, »Karl Valentins Hochzeit«, erschien 1912, zwei Jahre vor Chaplins Debüt, und es geht das Gerücht, dass sich der Brite von dem bayerischen Pionier etliches abgeschaut hat. Ein Angebot aus Hollywood lehnte er 1926 ab, aus Scheu vor der Schiffsreise.

In ausgewählten Kinos werden nun fünf Kurzfilmklassiker wiederaufgeführt. »Die Erbschaft« (1936), ein Armenkammerspiel, haben die Nazis auf Grund von »Elendstendenzen« verboten – was aus deren perverser Perspektive auf die Welt leicht nachvollziehbar ist. Denn Valentin und Karlstadt mimen ein Ehepaar aus der »armseligen Gesellschaft« (so verhöhnt sie der Vermieter), dem ununterbrochen Demütigungen widerfahren, und der Glücksfall einer kleinen Erbschaft entpuppt sich schließlich als doppelte Chimäre.

In der Feinheit der schauspielerischen Gesten überdauert gleichwohl ein Rest von Würde, und wenn Tucholskys Wort vom »Linksdenker« Valentin sein Recht besitzt, dann zuvörderst wegen dieser anrührenden Geschichte zweier Lumpenexistenzen.

In der »wunderherrlichen« (Valentin) Groteske »Im Schallplattenladen« (1934) möchte Valentin zunächst irgendwelche »Platten mit Schall« erwerben, dann eine »Freiwillige Sanitätskolonnenplatte« respektive eine Schellackscheibe mit dem Lied »Sanitätslos« – oder doch lieber den Gassenhauer »Ein Sonntagmorgen am Abend«. Und weil das alles nicht hinhaut – und Valentin zwischendurch sowieso meint: »Ich hab’ überhaupt nur Interesse am Motorradfahren« –, endet der ganze Kladderadatsch in einer aus Tolpatschigkeit und Wut (»Die Platte rott’ ich aus!«) geborenen Zerstörungsorgie. Technischer Fortschritt – hier: dieses Grammophonzeug – ist Unfug. Man versteht das, sobald man ein TV-Gerät der neusten Generation einrichten will.

Das Spiel mit Homonymen war ein Kernelement der Valentinschen Sprachartistik, die im Geplapper jeglichen Sinn vernichtet, jede kommunikative Konvention zertrümmert, den Versuch der Verständigung im agonalen Nonsens ersaufen lässt. Die Aushöhlung und Auflösung des Logos als weltstrukturierendes Prinzip negiert den bürgerlichen Kosmos der Vorschriften und Zwänge, und mit ihm gehen die lächerlichen Zuchtmeister unter – wie etwa der halbblöde Kapellmeister in »Orchesterprobe« (1933), den Valentin durch Missgeschicke, Schabernack (die Krawatte!) und Verwechslungen aller Art aus dem Konzept bringt und in den Wahnsinn treibt und nebenbei aufs trefflichste beleidigt.

Der Darsteller Karl Valentin war ein Anarchist, jede Form der Anmaßung veralberte er. In »Im Photoatelier« (1932) haben er und Karlstadt das virtuos demonstriert. Da kosten die zwei Angestellten ihre Unlust, idiotische Aufträge zu erledigen, mit sophistisch-proletarischem Witz aus. Subversion ist Widerstand gegen den (abwesenden) Herrn, den »Aff’«, und es wäre nicht zu weit hergeholt, in der vor sich hin stolpernden Szene eine Parabel über die Dialektik von Herr und Knecht zu sehen: Das »Für-andere-Sein« (Hegel) hat aufzuhören, und die Tollerei als Sabotage der Lohnarbeit gebiert Freiheit.

Karl Valentins »Körperspaß« (Alfred Kerr), seine Inklination zum begnadeten Slapstick in Anbetracht der Tücke der Objekte und seine »glanzvolle Geistlosigkeit« (Kerr), seine einfache Kompliziertheit, haben im »besten deutschen Film« (Herbert Achternbusch), in »Der Firmling« (1934), in dieser alkoholbefeuerten und durch lauter Inkohärenzen stets weiter gesteigerten sozialen Desintegrationsveranstaltung in einer gutbürgerlichen Weinstube einen fast naturalistischen Höhepunkt erklommen. Und da das Kleinod eh jeder kennt, sei zum Beschluss nur an einen Satz erinnert: »Ich bin keiner von der Bourgeoisie, der wo des Geld zum Ärmel nausfallen lässt.«

»Karl Valentin – die beliebtesten Kurzfilme«, Regie: Karl Valentin, Deutschland 1932–1936, bereits angelaufen

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