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Aus: Ausgabe vom 16.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Das Privileg des Unbehagens

Selbsthilfeerzählung: In Timon Karl Kaleytas »Heilung« wandelt der Protagonist auf einer therapeutischen Erkundungsreise
Von Dean Wetzel
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Kein Spaß: Schlaflosigkeit

Da ist ein Unbehagen, das sein Unwesen in uns treibt. Es offenbart nicht gern seine Gestalt, doch wir sehen überall seine Spuren. Es zeigt sich in den verschiedensten Symptomen, und wer es ergründen will, der muss tief in sich hineinhorchen. Unsere innersten Blockaden können wir nämlich nur selbst lösen. Jede therapeutische Hilfe bleibt Hilfestellung. So erklärt es zumindest Professor Trinkl, Leiter des »San Vita«, dem übermüdeten und namenlosen Protagonisten aus Timon Karl Kaleytas neuem Roman »Heilung«.

Dieser ist kerngesund – Ärzte und Experten können das attestieren –, hat jedoch seit drei Jahren keine Nacht mehr durchgeschlafen. Eine unerklärliche Blockade verhindert sein Übergleiten in die Tiefschlafphase. Ob als Ursache oder Wirkung, der entschiedene Kinderwunsch seiner Frau blieb unerfüllt. Auf ihr Anraten, denn sein Problem ist über die Zeit hinweg auch ihr zum Problem geworden, reist er ins »San Vita«, ein luxuriöses ganzheitliches Gesundheitsresort in den Dolomiten. Ein Geheimtipp, von dem seine Frau – eine renommierte Künstlerin, deren Erfolg er sich aufopferungsvoll unterordnet – bei ihrem Galeristen erfahren hat.

Das »San Vita« spricht eine besondere Klientel an. Menschen, die in ihrem Leben alles, sogar ein latentes Unbehagen an diesem übervollen Leben haben. Ein Privileg, dem es, nach Professor Trinkl, nachzusteigen gilt. Auch beim Protagonisten diagnostiziert er solch ein verstecktes Unbehagen. Um es freizulegen, greift der Professor zu unkonventionellen Mitteln: Von zeitlich begrenztem, mehr oder weniger kontrolliertem Freiheitsentzug, ästhetischen Behandlungen – »Nur schöne Menschen haben schöne Gedanken« – oder Sicherheitsüberprüfungen, die in groteske Bärenjagden ausarten, ist alles dabei.

Kaleytas neurotischer Protagonist sträubt sich zunächst gegen den Professor, seine Behandlungsmethoden wie auch gegen das »San Vita« selbst – dessen schaurige Atmosphäre eher an Stephen King als an Thomas Mann erinnert. Er ist aber auch ein notorischer Wendehals. Ständig versucht er sich alltäglichen Situationen wie ein Chamäleon anzupassen, bleibt dabei aber immer etwas außen vor. Doch plötzlich zeigt sein Aufenthalt Wirkung.

Während der Behandlung steigen verdrängte Kindheitserinnerungen aus seinem Unterbewusstsein hervor. Er erinnert sich an faschistische Kriegslieder, die seine Oma mit ihm und seinen gutem Kindheitsfreund Jesper sang. Schockiert von dieser Erinnerung, aber auch konfrontiert mit der Erinnerung an Jesper und dessen Idee eines anderen Lebensentwurfs, bricht er aus dem »San Vita« aus. Als Erntehelfer möchte er auf Jespers Bauernhof von vorn anfangen. Vielleicht hat Professor Trinkl recht gehabt, und er muss wirklich nichts weiter tun, als sein Leben zu ändern.

In seinem ersten Roman »Geschichte eines einfachen Mannes« erzählt Timon Karl Kaleyta noch vom Aufstiegsversprechen und der Gratwanderung zwischen Illusion und Selbstermächtigung. Kontrastiert wird diese Gratwanderung nun durch die Geschichte eines gemachten Mannes, der darum weiß, dass er alles hat, um glücklich zu sein, und sich doch in diesem Glück nicht einrichten kann. Der sich, wie er sich stolz versichert, seiner eigenen Fähigkeiten so bewusst ist, dass er alle falschen Träume aufgegeben hat, um sich ganz dem realistisch Erstrebenswerten zu widmen. Ganz Realist, ohne jeglichen Idealismus.

Doch was passiert, wenn die Sorglosigkeit und Selbstgewissheit eines gut eingerichteten Lebens in ihr Gegenteil umschlägt und selbst zur Quelle des Leidens wird? Kaleyta beschreibt – mit dem melancholischen Witz einer sang- und klanglos untergegangenen Moderne, durchsetzt von einem unheimlichen Hintergrundrauschen – die Suche nach dem Ganzen, das uns, als Teil des Ganzen, immer schon verloren scheint. Er führt seinen Protagonisten ins Innerste des eigenen Bewusstseins. Was jedoch dazu führt, dass der Getriebene widerwillig die Seelenergründung von innen nach außen wendet, um vor dem eigenen Selbst dann doch lieber ins Leben zu fliehen. Dabei stellt sich heraus, dass Professor Trinkl und seinen Freund und Lebemann Jesper etwas verbindet. Sie sind die zwei Extreme eines Endes, in dessen Mitte sich der Protagonist verfangen hat. Ein Ende, das sich vielleicht im Angesicht des Todes in einen neuen Anfang auflösen lässt. Oder handelt es sich bei der Idee, im Angesicht des Todes endlich zu sich selbst zu finden, etwa doch um eine weitere neurotische Selbsthilfeerzählung?

Timon Karl Kaleyta: Heilung. Piper-Verlag, München 2024, 208 Seiten, 22 Euro

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