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Aus: Ausgabe vom 16.08.2024, Seite 12 / Thema
Gesundheitspolitik

Herumdoktern am System

Hauptsache: Kosten reduzieren. Karl Lauterbachs »Gesundes-Herz-Gesetz« will mehr Vorsorge, ignoriert aber die Wurzeln des Problems: den kapitalistischen Alltagsstress
Von Suitbert Cechura
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Schnell zum Job. Wer seine Arbeitskraft verkaufen muss, kann sich dem Krankheitstreiber Stress kaum entziehen (morgendlicher Berufsverkehr am Berliner Bahnhof Ostkreuz)

Eins kann man Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nicht vorwerfen: dass er untätig ist. Gerade erst war er mit vier Gesetzen im Kabinett, hat den Verbänden sein »Gesundes-Herz-Gesetz« (GHG) zugeleitet und sie um Stellungnahmen gebeten. Die Rückmeldungen fielen aber sicher nicht so aus, wie sich der Minister das vorgestellt hatte, denn sie waren überwiegend negativ.

Wie üblich hatte Lauterbach dem Gesetzesvorschlag seine Problemsicht vorangestellt und sein Vorhaben so begründet: »Deutschland gibt soviel wie kein anderes Land in der Europäischen Union (EU) im Bereich der Gesundheit aus: knapp 5.000 Euro pro Einwohner und Jahr, das sind 59,2 Prozent mehr als der Durchschnitt (3.159 Euro, OECD). Trotzdem liegt die Lebenserwartung in Deutschland mit 80,8 Jahren nur knapp über dem EU-Durchschnitt (80,1 Jahre) – im Vergleich zu vielen westeuropäischen Ländern sogar deutlich darunter. Dies wird insbesondere auf die kardiovaskuläre Sterblichkeit zurückgeführt. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind hierzulande die häufigste Todesursache, die im Jahr 2021 ein Drittel aller Todesfälle umfasste (…). Mit rund 57 Milliarden Euro verursachen Krankheiten des Kreislaufsystems im Jahr 2020 die höchsten Kosten im Gesundheitssystem in Deutschland.«¹

Früher erkennen

Der Minister sieht einen Reformbedarf, weil ihn die Kosten für die Gesundheit stören. Zwar belasten sie nicht alle den staatlichen Haushalt, denn das Gros dieser Kosten wird von den Bürgern selbst in Form von Krankenkassenbeiträgen aufgebracht. Als Lohnnebenkosten belasten sie aber die Gewinnrechnung der Unternehmen und damit deren Erfolg; und weil die Beiträge für die Krankenkassen in der Regel nicht reichen, sind die Gesundheitskosten auch ein großer Posten im Haushalt. Einsparen kann der Staat sie nicht umstandslos, braucht er doch eine funktionsfähige Bevölkerung, die ihren Dienst als Arbeiter, Lehrer, Soldat oder Mutter vollbringt.

Abhilfe soll nun das »Gesunde-Herz-Gesetz« durch ein Bündel von Maßnahmen schaffen: »1. Verbesserung der Früherkennung bei Kindern und Jugendlichen; 2. Verbesserung der Früherkennung bei Erwachsenen; 3. Stärkung von Disease-Management-Programmen; 4. Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse; 5. Reduzierung des Nikotinkonsums; 6.Beratung zur Prävention und Früherkennung von Erkrankungen und Erkrankungsrisiken in Apotheken«.²

Um die Früherkennung bei Kindern und Jugendlichen zu verbessern, will sich der Minister eine »Rechtsverordnungsermächtigung« erteilen und so die Untersuchungen effektiver in seinem Sinne gestalten. Ebenso geht es um die Verbesserung der Früherkennung bei Erwachsenen, die durch die Krankenkassen zu diesen Untersuchungen eingeladen werden und einen Gutschein für eine Beratung in Apotheken erhalten sollen. Die »strukturierten Behandlungsprogramme« oder »Disease-Management-Programme« für chronisch Kranke, zu denen auch Herz-Kreislauf-Erkrankte gehören, sollen ausgeweitet und auf den Personenkreis erweitert werden, der Risiken für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung aufweist. Die Bekämpfung kardiovaskulärer Ereignisse besteht in der vorbeugenden Gabe von Statinen, einem Mittel zur Senkung des Cholesterinspiegels im Blut. Zur Reduzierung des Nikotinkonsums soll die medikamentöse Therapie ausgeweitet werden, und Apotheken sollen in die Beratung zur Prävention und Früherkennung einbezogen werden.

Die Rückmeldung durch die Verbände war mit Ausnahme der Deutschen Herzstiftung und der Pharmazeutischen Zeitung negativ: »Mehr Medikamente und Check-ups schon für Kinder sind Aktionismus, aber keine Strategie, die Zivilisationserkrankung in den Griff zu bekommen«, äußerte Josef Hecken, der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), einem Gremium von Vertretern der Ärzteschaft und Krankenkassen.³ Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) nahm kritisch Stellung: »Der Referentenentwurf sieht an verschiedenen Stellen Maßnahmen vor, die nicht den Anforderungen an eine evidenzbasierte Gesundheitsversorgung entsprechen. Darüber hinaus ist eine explizite Regelung geplant, dass die Festlegung und Erbringung von Früherkennungsmaßnahmen, deren Nutzen nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin noch nicht belegt ist, mittels Rechtsverordnung festgelegt werden können und zu Lasten der Krankenkassen zu erbringen sind.«⁴

Kritik kam auch vom Verband der Ersatzkassen (VDEK): »Der VDEK sieht die vom BMG vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen als wenig erfolgversprechend an und lehnt zentrale Teile des Entwurfs deshalb ab. Der organbezogene Ansatz und die Behandlung mittels medikamentöser Intervention sind nicht zeitgemäß.«⁵ Und der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) bemängelt: »Statt auf Gesundheitsbildung und ganzheitliche Präventionsansätze setzt das Gesetz auf frühzeitige Medikamentengabe im Kindesalter, die nicht ausreichend evidenzgesichert ist.«⁶ Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) fordert ein anderes Vorgehen:: »Um kardiovaskuläre Erkrankungen zu verhindern, muss aus Sicht der BAGFW jedoch das Ziel sein, primärpräventiv und gesundheitsförderlich an den Ursachen der Krankheitsentstehung anzusetzen, indem verhaltensbezogene Risikofaktoren, wie Tabak- und Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung, möglichst lebensweltlich eingebettet, durch salutogene (gesundheitsfördernde; jW) Maßnahmen entgegengewirkt wird.«⁷

Interessierte Kritik

In der Zielsetzung des Referentenentwurfs, Herzerkrankungen vorzubeugen, sind sich alle Kommentatoren mit dem Ministerium einig, und von daher wird der Entwurf auch von der Deutschen Herzstiftung begrüßt. Doch die Verbände und Institutionen sehen durch den Entwurf auch immer ihre Interessen berührt. Logisch, dass da die Pharmazeutische Zeitung den Entwurf nur begrüßen kann, werden doch mit dem Gesetzesvorhaben die Geschäftsmöglichkeiten für Apotheken eindeutig erweitert. Natürlich sind die Kritiker stets bestrebt, ihr Interesse als einen Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit darzustellen, was mal mehr und mal weniger gelingt.

Für den Gemeinsamen Bundesausschuss, der bislang über die Zulassung von Therapien und Medikamenten zur Finanzierung durch die Krankenkassen entscheidet, stellt der Entwurf einen erheblichen Eingriff in seine Entscheidungsgewalt dar. Schließlich ist mit dem neuen Gesetz geplant, Untersuchungen und Therapien gesetzlich zu regeln. Das ist ein Eingriff in die Therapiefreiheit von Ärzten. Das IQWIG, das eigens dafür geschaffen wurde, den G-BA in Sachen Qualität und Wirtschaftlichkeit zu beraten, sieht sich ebenfalls angegriffen. Schließlich soll diese Institution doch den Schein erzeugen, dass alle Entscheidungen im Gesundheitswesen auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgen, wofür der Begriff der Evidenz steht.

Für den Verband der Ersatzkassen bringt der Entwurf zusätzliche Kosten, ohne dass er darin einen Nutzen erkennen kann. Ähnlich urteilt der Verband der privaten Krankenversicherer – nicht ohne einen Hinweis auf die fehlende Evidenz unterzubringen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ist nur mittelbar betroffen, da deren Mitglieder in Sozialarbeit, Pflege und Alteneinrichtungen tätig sind. Wenn die BAGFW für mehr Berücksichtigung verhaltensbezogener Risiken plädiert, denen durch mehr lebensweltliche Maßnahmen begegnet werden soll, dann sehen Arbeiterwohlfahrt, Caritas und Co. darin offenbar Chancen, in ihren Einrichtungen zum Beispiel eine bessere Finanzierung für eine gesündere Ernährung durch die staatlichen Kostenträger zu erlangen: »Die BAGFW setzt sich zudem dafür ein, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Gemeinschaftsverpflegung künftig stärker gesundheitsförderlich und an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit ausrichten zu können.«⁸

Treffen wollen alle Kritiker den Minister mit dem Vorwurf der fehlenden Evidenz der vorgeschlagenen Maßnahmen. Und vor allem G-BA und IQWIG, also Institutionen, die dem Ministerium unterstehen und als Garanten für unabhängige und wissenschaftliche Begründung gesundheitspolitischer Entscheidungen gelten, sehen sich getroffen, trauen sich sogar, gegen ihren Auftraggeber aufzutreten. Schließlich führt Karl Lauterbach ebenfalls ständig wissenschaftliche Evidenz als Begründung für seine gesundheitspolitischen Entscheidungen an und versucht sich dergestalt unangreifbar zu machen. Dass die Entscheidungen des Ministers nicht immer wissenschaftlich begründet oder begründbar sind, hat ja nicht nur die Diskussion um die RKI-Protokolle gezeigt. Doch wenn sich unterschiedliche Positionen mit wissenschaftlicher Evidenz begründen lassen, dann muss dies auch etwas mit diesem Kriterium zu tun haben.

Nicht immer »evident«

Evidenzbasierte Medizin hat den Anspruch, möglichst alles im Gesundheitswesen durch wissenschaftliche Untersuchungen zu begründen. Das betrifft ganz unterschiedliche Bereiche: die Wirksamkeit von Therapien, den Nutzen von Massenuntersuchungen und Impfungen oder die Risiken von Krankheiten. Untersuchungen zur Wirksamkeit von Therapien oder Medikamenten sind sinnvoll, zeigt doch der Vergleich einer Untersuchungs- und einer Kontrollgruppe, ob ein Medikament oder eine Behandlung besser oder wirksamer ist als die Selbstheilungskräfte des Körpers. Da aber Medikamente und Behandlungen immer auch Geschäftsmittel sind, wird bei Untersuchungen für die Zulassung dieser Verfahren oder Medikamente vielfach getrickst. Untersuchungen mit negativem Ergebnis werden unterschlagen, Patientengruppen so bestimmt, dass dies vorteilhaft für das Ergebnis ist, Abbrecher bei der Auswertung nicht berücksichtigt usw. Von daher gibt es immer wieder Diskussionen über die Aussagekraft von wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit von Medikamenten oder Therapien.

Massenuntersuchungen zur Vorsorge wie bei Brustkrebs, Hautkrebs und ähnlichen Erkrankungen werden wissenschaftlich nicht nur hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, sondern auch mit Blick auf ihre Kosten bewertet. So wird etwa bei den sogenannten Screeningverfahren ausgewertet, wie viele erkrankte Personen dadurch gefunden werden konnten: Hat ein Test beispielsweise zehn oder hundert von tausend Getesteten als krank identifiziert? Dabei stellt sich immer wieder heraus, dass es eine Anzahl von Menschen gibt, die krank sind, durch die Untersuchung aber nicht erfasst werden – das sind die sogenannten falsch negativen Untersuchungsergebnisse. Dies könnte beispielsweise drei von tausend Untersuchten betreffen. Gleichzeitig können Menschen durch solche Tests als krank diagnostiziert werden, die gar nicht krank sind und trotzdem behandelt werden – das sind die sogenannten falsch positiv diagnostizierten Patienten. Screeningtests verursachen zudem stets Kosten, und so ist die Entscheidung für oder gegen die Einführung eines solchen Tests nie wissenschaftlich eindeutig begründet, sondern stellt eine Güterabwägung auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen dar. Die Frage lautet: Wie viele falsch Diagnostizierte ist man bereit in Kauf zu nehmen, und wie hoch dürfen die Kosten sein?

Wenn es um Krankheitsursachen geht, geben wissenschaftliche Untersuchungen im Sinne von Vergleichsuntersuchungen keine Auskunft. Es können allenfalls Risiken ermittelt werden, die Hinweise auf mögliche Ursachen geben oder auch nicht. Man kann natürlich alles mögliche in Untersuchungen vergleichen, zum Beispiel die Frage, ob Männer häufiger einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden als Frauen. Das ist so – und damit wäre das Geschlecht ein Risikofaktor. Nur was besagt das? Zudem erleiden Frauen zwar seltener einen Herzinfarkt, aber wenn es sie trifft, sterben sie häufiger daran. Was nun?

Raucher bekommen häufiger einen Herzinfarkt als Nichtraucher, Rauchen gilt daher oft als ein eindeutiges Risiko für einen Infarkt, wird gelegentlich sogar als Krankheitsgrund behandelt, obwohl es das nicht ist. Hier ist man sich schnell sicher: »Tabakkonsum ist eine der Hauptursachen für kardiovaskuläre Erkrankungen und Todesfälle.«⁹ Aber: Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status rauchen häufiger als Menschen mit höherem sozialen Status. Ist jetzt der sozioökonomische Status für die Krankheit verantwortlich oder das Rauchen? Hinzu kommt, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status häufiger an belebten Straßen wohnen und nicht nur ständige Lärmbelästigung erleiden, sondern auch mehr Feinstaub einatmen als Menschen, die in besseren Wohngegenden wohnen. Während Rauchen allenfalls ein paar Stunden des Tages schädigt, wird Feinstaub rund um die Uhr eingeatmet.

Wie sollen diese Risiken bewertet werden? Was ist hier »evident«? Die genannten Beispiele machen einerseits deutlich, dass die Risikenbestimmung durch solche wissenschaftlichen Untersuchungen willkürlich ist, lassen sich doch beliebig Gruppen vergleichen – etwa bezüglich ihres Verhaltens oder ihrer Lebensbedingungen. Andererseits sind sie hinsichtlich der Krankheitsgründe wenig aussagekräftig. Um so bemerkenswerter ist es, dass bei allen Zivilisationskrankheiten das Mantra von Ärzten wie Gesundheitspolitikern stets lautet: gesund ernähren, viel bewegen, Tabak und Alkohol meiden!

Dass damit die zentralen Gesundheitsrisiken reduziert werden, kann man guten Gewissens eigentlich nicht behaupten. Dass diese Empfehlungen dennoch als unumstößlich gelten, muss an etwas anderem liegen. Aus Sicht der Medizin mag es nachvollziehbar sein, es bleibt aber dennoch kritikabel. Die Medizin befasst sich mit dem leidenden Menschen, dem Patienten. Auf die Lebensumstände hat sie keinen Einfluss, wohl aber auf das Verhalten ihrer Patienten. Deren Schädigung durch Armut, Schadstoffbelastung oder Straßenlärm kann das medizinische Personal nicht beseitigen. Also bleibt es bei der Devise: Der Patient soll sich stählen, um diese Belastungen besser zu ertragen, und auf zusätzliche Selbstschädigungen verzichten. Für den Berufsstand wäre es eigentlich angebracht, auf die Krankheitsursachen zu verweisen. Doch dann überschreitet er seine Kompetenz. Anders sieht dies natürlich bei Politikern aus, die mit der Verursachung direkt (zwar nicht als Täter, sondern als Regulierer) befasst sind.

Verwaltung der Volksgesundheit

Für die schädigenden Lebensumstände der Bürger wollen sie indes nie verantwortlich sein. Dabei sind die Gründe zum Beispiel für Herz-Kreislauf-Erkrankungen kein Geheimnis. Die einschlägigen Erkenntnisse verdanken sich dabei nicht irgendwelchen Vergleichsuntersuchungen, sondern den Kenntnissen der Physiologie des menschlichen Körpers, der Untersuchung erkrankter Patienten und ihrer Organe. Herzinfarkt und Schlaganfälle basieren auf dem Verschluss von Arterien, dadurch kommt es zum Absterben von Gehirn- oder Herzmuskelzellen. Der Verschluss entsteht durch Einlagerungen von Cholesterin in die geschädigten Gefäßwände. Diese Schädigungen werden vorzugsweise durch Bluthochdruck hervorgerufen.

Der Blutdruck ist aber keine feste Größe, sondern ändert sich mit der Belastung des Körpers durch psychische oder physische Anforderungen. Wenn also viele Menschen an Bluthochdruck leiden und dies bei ihnen ein Dauerzustand ist, dann zeigt das an, dass sie ständig hohen Belastungen ausgesetzt sind, die den Körper ruinieren. Der Ausgangspunkt einer solchen Anspannung ist bekannt und wird landläufig mit Stress bezeichnet. Und Stress resultiert notwendigerweise aus vielen Situationen in der hiesigen kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. So haben Kinder bereits Stress in der Schule, weil sie dort nicht einfach unterrichtet, sondern einer Lernkonkurrenz unterzogen werden, die über den Zugang in die Berufshierarchie entscheidet. Das Berufsleben ist ebenfalls von Stress gekennzeichnet. Schließlich sind alle gezwungen, Geld zu verdienen, weil alles Eigentum ist und damit Geld kostet. Für die Mehrheit heißt dies, sich als Arbeitskraft anzubieten, was die Existenz zu einer unsicheren Angelegenheit macht. Die bezahlte Arbeit soll sich für den Anwender lohnen, also wird möglichst viel an Leistung in der bezahlten Zeit verlangt. Um zur Arbeit zu gelangen, müssen sich viele Menschen durch Staus bewegen oder unpünktliche Züge benutzen, was zusätzlichen Stress produziert. Die Diskussion um die sogenannte Work-Life-Balance macht deutlich, dass immer mehr Zeit fürs Berufsleben draufgeht. Schließlich haben Paare nicht einfach die Alternative: Einer geht arbeiten und der andere kümmert sich um Haushalt und Kinder – oder beide arbeiten halbtags und teilen sich Hausarbeit und Kindererziehung.

Da die Reallöhne gesunken sind, müssen heutzutage selbstverständlich beide Elternteile arbeiten und die Zeit für den Haushalt, den Partner oder die Partnerin, für Kinder, Freunde oder Verwandte schrumpft auf eine Restgröße. Das macht die Freizeit ebenfalls zur Stressquelle. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Volkskrankheit Nummer eins sind – und damit auch die Hauptursache für den Tod. Wenn diese Erkrankungen als »Zivilisationskrankheiten« bezeichnet werden, wird vielfach die Vorstellung eines zu guten Lebens aufgerufen, gezeichnet von Trägheit, Völlerei, Rauchen und Saufen. Verwunderlich ist nur, dass diese Krankheiten nicht vorzugsweise diejenigen treffen, die Gourmettempel besuchen oder am heimischen Swimmingpool auf der faulen Haut liegen, sondern diejenigen, deren Leben von Armut und einem nie endenden Daseinskampf gekennzeichnet ist.

Wenn der Bundesgesundheitsminister nun mit seinem GHG-Vorhaben antritt, um die Zahl der Erkrankungen und damit auch die Kosten für deren Versorgung zu senken, dann sind in seinem Programm die belastenden Lebensumstände der meisten Bürger ausgeblendet. Die Frühuntersuchungen für Kinder und Jugendliche zielen auf diejenigen, die familiär bedingt an einer Hypercholesterinämie, also einem erhöhten Cholesterinspiegel, leiden. Es ist zwar löblich, dieses Leiden früh zu erkennen und zu behandeln. Das betrifft aber nur einen sehr kleinen Teil derjenigen, die von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bedroht sind, weil der kapitalistische Alltag ihnen Leistungen abverlangt, die sie überfordern. Erwachsenen will der Minister mit Ratschlägen und Pillen kommen. Von Menschen, denen Sport gar keinen Spaß macht, mehr Bewegung zu fordern weist aber darauf hin, dass es nur sehr bedingt um ihr Wohlbefinden geht. Sie sollen ihren Körper trainieren, damit sie den Belastungen des Alltags besser standhalten und nicht dem Gesundheitswesen zur Last fallen.

Belastungen ausgeblendet

Die Forderung nach gesunder Ernährung ist eigentlich ein Skandal: Macht sie doch deutlich, dass es in dieser Gesellschaft Lebensmittel gibt, die diesen Namen eigentlich nicht verdienen und trotzdem, mit staatlicher Erlaubnis, zirkulieren. Mit dem Siegel »Bio« wird dann geworben, um anzuzeigen, dass spezielle Lebensmittel weniger giftig sind als die übrigen und dass man sie für teures Geld erwerben kann. Mangels Zeit findet Kochen in der Familie kaum noch statt, sondern vorzugsweise in Kochsendungen. Ernährt wird sich, weil es schnell gehen muss, vor allem von Snacks und Fertiggerichten, über die sich die PKV ganz kritisch äußert: »Deren Ursachen (von Herz-Kreislauf-Erkrankungen) gehen vielfach auf vermeintliche Annehmlichkeiten unseres modernen Lebensstils zurück, der durch ein Überangebot an zucker-, salz- und fettreicher Nahrung, häufig Fast food, zuwenig Bewegung und zuviel Stress gekennzeichnet ist.«¹⁰ Essen ist demnach nicht Genuss oder Veranstaltung der Geselligkeit, sondern hat in den Dienst der Gesundheit zu treten, um den Körper gegen die schädigenden Wirkungen des Alltags zu rüsten. Auf den Konsum von Alltagsdrogen wie Nikotin und Alkohol sollen die Bürger verzichten, weil sie zusätzlich schädigen. Ein Verbot dieser Mittel ist dennoch nicht geplant, weiß doch der Minister zu genau, dass sie zu den Schmiermitteln gehören. Ohne sie können viele Menschen die Anforderungen des kapitalistischen Alltags gar nicht mehr aushalten.

Untersucht werden sollen nicht etwa die Belastungen, denen der Mensch ausgesetzt ist. Die Gesundheitsrisiken werden vielmehr vorzugsweise im Patienten selbst und seinem Verhalten ausgemacht. Zeichnet sich bei ihm das Risiko ab, sollen die Auswirkungen mit Statinen bekämpft werden. Mittel, deren Wirksamkeit zweifelhaft ist, da der Körper selbst Cholesterin produziert. Und sie sind nicht ohne Nebenwirkungen, sollen aber verabreicht werden, und zwar auch dann, wenn die Menschen noch keine Schädigungen aufweisen: »Die von Lauterbach präferierten Medikamente zur Senkung des Cholesterinspiegels seien keine ›Pfefferminzbonbons aus dem Supermarkt‹, sondern Medikamente mit vielen Wechsel- und Nebenwirkungen. Sie verursachen beispielsweise Muskelschmerzen, Leberschäden oder Diabetes«, heißt es im Ärzteblatt.¹¹

Ärzte sollen laut den Plänen des Ministers zudem in der Beratung der Bevölkerung durch Apotheker unterstützt werden (auch wenn dies von ersteren gar nicht gewünscht ist, stellen die Apotheken mit ihrem Angebot doch eine billige Konkurrenz dar). Dergestalt will Lauterbach die Kosten für das Gesundheitswesen senken: »Eine frühzeitige ambulante Therapie von Risikoerkrankungen und Frühstadien von Erkrankungen hat das Potential für deutliche Kostenvorteile gegenüber einer späteren kostenintensiven stationären Therapie von schwer verlaufenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei einer jährlichen Reduzierung der Krankheitslast um – konservativ geschätzt – 0,4 Prozent des Niveaus von 2020 in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes könnte es zu Einsparungen der GKV in Höhe von zusätzlich rund 140 Millionen Euro pro Jahr kommen. Würde sich die Krankheitslast weiter reduzieren, könnte beispielsweise vier Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes und bei einer Reduzierung der Krankheitslast um 1,5 Prozent ein Einsparpotential für die GKV in Höhe von rund 510 Millionen Euro pro Jahr erreicht werden.«¹²

In den Augen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ist das eine Milchmädchenrechnung: »Die vorgelegte Berechnung des Einsparpotentials ist ungeeignet und daher nicht aussagekräftig. Bei der Berechnung wurden lediglich potentielle Kostenreduktionen durch eine verringerte Krankheitslast bei Herz-und-Kreislauf-Erkrankungen den anstehenden Ausgaben gegenübergestellt. Unabhängig von der Frage, ob die Reduktion der Krankheitslast durch die Maßnahmen überhaupt erreicht wird, da (noch) nicht evidenzbasierte Maßnahmen eingeführt werden sollen, fehlen Betrachtungen zu Kosten anderer Erkrankungen. Die mit den Maßnahmen erwünschten Verlängerungen der Lebenserwartung führt auch zur Zunahme altersbedingter Erkrankungen wie z. B. Krebs.«¹³

Länger zu leben geht eben auch mit einem hohen Gesundheitsrisiko einher! Der kapitalistische Alltag führt eben zu vielen Schädigungen, die sich nicht nur in Herz-Kreislauf-Erkrankungen manifestieren und Krebs zur Volkskrankheit Nummer zwei machen. Man kann eben nicht alles haben: eine blühende Wirtschaft zur Kapitalvermehrung ohne Rücksicht auf Mensch und Natur, eine funktionsfähige Bevölkerung, die diesen Reichtum hervorbringt (und dabei ruiniert wird), und ein billiges Gesundheitswesen als Reparatursystem für die so geschädigten Bürger.

Anmerkungen

1 Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Herzgesundheit (Gesundes-Herz-Gesetz), GHG, t1p.de/gesundes_Herz

2 Ebd.

3 Ärzteblatt, 8.7.2024, t1p.de/Kritik_Lauterbach_1

4 t1p.de/Kritik_Lauterbach_2

5 t1p.de/Kritik_Lauterbach_3

6 t1p.de/Kritik_Lauterbach_4

7 t1p.de/Kritik_Lauterbach_5

8 Ebd.

9 Ebd.

10 t1p.de/Kritik_Lauterbach_4

11 Siehe Anm. 3

12 GHG (Anm. 1)

13 t1p.de/Kritik_Lauterbach_2

Suitbert Cechura schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. Juni 2024 über das Elend des Komanagements

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (17. August 2024 um 16:31 Uhr)
    Nach dem »Gute-Kita-Gesetz« und so mancherlei des »Guten« mehr, nun also das »Gute-Herz-Gesetz«. Dann kann das »Schöner-Sterben-Gesetz« ja nicht mehr allzu fern sein. Denn »kein schöner Land in dieser Zeit«, als unser »Sozialstaat« weit und breit, in dem die Politiker stets ein »Herz« für die Bürger haben (besonders vor anstehenden Wahlen), die ihrerseits wiederum schön blöd genug sind, das alles über sich ergehen zu lassen, statt der Politik unmissverständlich klarzumachen, nun sei es des »Guten« aber endlich mal genug. – Alles wird »gut«, doch wann wird’s mal besser?

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