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Aus: Ausgabe vom 17.08.2024, Seite 6 / Ausland
Nahostkonflikt

»Lasst Palästina in Ruhe«

Brief aus Jerusalem. Die Khalidi-Bücherei in der Altstadt zeugt von der reichen Vergangenheit vor der Besetzung
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
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Im Visier der israelischen Siedler: Die Khalidi-Bibliothek in der Jerusalemer Altstadt (o. D.)

Im Frühjahr 1899 schrieb Jusuf Al-Khalidi einen prophetischen Brief an den französischen Oberrabbiner Zadok Kahn: »Es ist notwendig, dass die zionistische Bewegung stoppt. Im Namen Gottes, lasst Palästina in Ruhe!« Der früh verstorbene Erlanger Historiker Alexander Schölch fand in der Jerusalemer Khalidi-Bücherei die Autobiographie Al-Khalidis. An seinem Beispiel konnte Schölch den Aufstieg der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »zu einem bedeutsamen politisch-administrativen Zentrum« nachverfolgen, ebenso wie die soziopolitische Transformation in Palästina generell.

Die Khalidi-Familie gehörte zur Oberschicht Jerusalems, zu »einer der beiden alteingesessenen Notabelnfamilien, den Khalidis und den Husseinis«. Die Husseinis waren die größere und reichere, die Khalidis stützten sich derweil auf den Einfluss durch ihre jahrhundertelang bekleideten Positionen im Schariagericht. Die Khalidis besitzen viele Häuser in der Altstadt. 1828 sind diese in einen Familien-Wakf übergegangen, eine Art Stiftung. Nach islamischem Recht kann nichts davon verkauft werden, es muss für die Familie erhalten bleiben.

Khadijeh Al-Khalidi, eine der weitblickenden Frauen der Familie, beschloss 1870, dass eine Bibliothek etabliert werden sollte. 1900, nach ihrem Tod, gründete ihr Sohn Hadsch Raghib Al-Khalidi die Einrichtung. Sie ist weltweit eine der größten Sammlungen von islamischen Manuskripten im Besitz einer Familie. In der Bibliothek finden sich Dokumente der Khalidi-Familie, die bis ins elfte Jahrhundert zurückgehen. Außerdem beherbergt sie einen regelrechten Schatz von Büchern, nicht zuletzt das Werk von Ruhi Al-Khalidi, der lange Jahre in Frankreich gelebt und gearbeitet hatte.

Die Bücherei und die meisten Häuser aus dem Khalidi-Wakf finden wir in der Bab-Al-Silsila-Straße. Von der Bibliothek aus blickt man direkt auf die Klagemauer, von Muslimen verehrt als Al-Burak (geflügeltes Pferd, das der Prophet Mohammed nach einer Himmelsreise dort festband, jW). Eben diese Nähe wurde für die Bibliothek und den Besitz der Khalidi-Familie ein zentrales Problem. Nach der Besetzung der Altstadt durch Israel im Junikrieg 1967 zerstörte die Armee das gesamte Maghrebi-Viertel, um freien Zugang und einen riesigen Platz vor der Klagemauer zu schaffen. Die Armee besetzte das Dach der Bibliothek, und Ende der 1970er Jahre wurde dort eine extremistische Jeschiwa (Toraschule, jW) errichtet. Die Jeschiwa-Bewohner terrorisierten die »Khalidiyyeh« mit dem Ziel, alles zu konfiszieren. Ein langer Rechtsstreit folgte, den die Familie für sich entscheiden konnte.

Schräg gegenüber ist der Bibliotheksannex, in dem sich die meisten Manuskripte befinden. Die Bücher blieben an ihrem alten Ort. Im Juni 2024 besetzten Siedler ein Haus der Khalidis direkt neben der Bibliothek. Sie schlugen die Bewohner brutal zusammen. Mit gefälschten Papieren versuchten sie, ihre Besitzansprüche gerichtlich durchzusetzen. Zum Glück hatten Angehörige der jüngeren Generation der Khalidi-Familie das gesamte Eigentum auch in Israel offiziell registrieren lassen. Nur auf dieser Grundlage mussten die Siedler das Haus räumen.

Am Mittwoch besuchte ich die Bibliothek. Einen Tag zuvor – wie Bibliothekar Khader Salameh berichtete – hatten Siedler den Annex attackiert, alles unter Polizeischutz. Kurz bevor ich kam, durfte Salameh endlich wieder in den Anbau und wechselte als erstes das Schloss aus. Jetzt hofft er fürs erste auf Ruhe.

Die »Khalidiyyeh« steht symptomatisch für den israelischen Versuch, die gesamte Altstadt zu »übernehmen« und die Palästinenser sukzessive zu vertreiben. Ein weiteres Beispiel ist das armenische Viertel. Siedlerorganisationen wollen Teile davon »übernehmen«. Zum Glück konnten die Armenier rechtzeitig rechtlichen Widerspruch einlegen. Aber was immer die nichtjüdischen Bewohner der Altstadt versuchen: Gegen sie steht die geballte Macht der Besatzung. Und wenn rechtliche Mittel nicht mehr nützen, kommt einfach eine militärische Anordnung und der israelische Siedlerkolonialismus hat wieder einmal gewonnen.

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit nördlich von Jerusalem im Westjordanland und Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Dies ist ihr siebter Beitrag in der Reihe »Briefe aus Jerusalem«. Teil sechs zur linken Gruppe Matzpen erschien in der Ausgabe vom vergangenen Wochenende.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. August 2024 um 10:16 Uhr)
    Die Geschichte der Khalidi-Bücherei in Jerusalem ist ein eindrucksvolles Beispiel für die tief verwurzelte Geschichte und die komplexe Gegenwart der Stadt. Diese Bibliothek, die seit Jahrhunderten existiert und Schätze islamischer Kultur bewahrt, steht heute im Zentrum eines erbitterten Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Die Juden werden oft als »Volk des Buches« bezeichnet – eine Kultur, die Bildung und Wissen seit Jahrtausenden hoch schätzt. Doch wie ironisch ist es, dass in Jerusalem, einer Stadt, die für Juden, Muslime und Christen heilig ist, das Recht mit Methoden durchgesetzt wird, die man selbst als Volk der Geschichte gut kennt – Vertreibung, Enteignung, Unterdrückung. Die Gründung Israels war ein Triumph für ein Volk, das jahrhundertelang unterdrückt wurde. Doch jeder Krieg, den Israel gewann, brachte nicht den ersehnten Frieden, sondern schien den Konflikt nur weiter zu verschärfen. Die Besatzung der Altstadt Jerusalems, die Zerstörung historischer Viertel, die Schikanen gegen die palästinensische Bevölkerung – all das steht in einem schmerzlichen Kontrast zu den jüdischen Idealen von Gerechtigkeit und Frieden. Man könnte fragen: Wo bleibt die Lehre der Geschichte? Wo ist das Streben nach Gerechtigkeit, das aus dem eigenen Leid geboren wurde? Stattdessen scheint sich der Konflikt in einer Spirale aus Gewalt und Vergeltung zu verfangen, die den Frieden immer weiter in die Ferne rückt.

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