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Aus: Ausgabe vom 16.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

Montaigne verpflichtet

Die deutsch-französische Literaturwissenschaftlerin Heidi Urbahn de Jauregui ist im Alter von 84 Jahren gestorben. Ein Nachruf
Von Felix Bartels
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Schwungvoll, erzählerisch, Theorie zur Formel verdichtend

Dassjanding, dass Sie in unserem Dorf waren, beim nächsten Mal kommen Sie bitte auch vorbei. Schrieb sie im Sommer 2009, als wir uns in Montpellier verpasst hatten. Genauer, ich nicht den Mut gefunden hatte, mich bei ihr einzuladen. Später trafen wir uns manchmal in Heidelberg, wo ich lebte und sie sich aus familiären Gründen gelegentlich aufhielt. Da waren wir schon beim Du, womit ich mich nie hab anfreunden können. Zu groß der Respekt, was sie nicht gern gelten ließ. Richtig auf Augenhöhe, das ging für mich nicht.

Den Anfang machte natürlich Peter Hacks. Sie hatte ihn gekannt, ich schrieb bloß über ihn. Letzteres tat auch sie, und zwar bereits zu einer Zeit, da eine veritable Aufschlüsselung des poetischen Werks von Hacks noch Desiderat war. Heidi Urbahn de Jauregui hat diesen Acker fruchtbar gemacht, derweil die Philologien in BRD und DDR mit diesem Dichter, abgesehen von Beifall und Schmähung, nichts anfangen konnten, ihn phantasielos einordnend in die Muster ihres zeitlichen Denkens. Keine Übertreibung zu sagen, dass kaum ein instruktiver Text, der seit dem Ableben von Hacks zu ihm erschienen ist, hätte geschrieben werden können ohne die Vorarbeit von Urbahn de Jauregui.

Am 5. März 1940 in Remscheid geboren, studierte sie in Köln, dem westlichen Berlin, in Paris und Montpellier. Mit einer Arbeit über Peter Hacks wurde sie an der Universität Lyon promoviert, bis zu dessen Tod im August 2003 stand sie in engem Kontakt mit ihm, der ihr Denken beeinflusste, doch nicht durchweg ihre ästhetischen Werturteile. Nach der Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft wechselte Urbahn de Jauregui an die Universität St. Étienne. Sie machte sich u. a. mit ihren Essays zur DDR-Literatur einen Namen, auch in junge Welt publizierte sie eine Zeitlang regelmäßig. Zuletzt erschien die Essaysammlung »Der Liebe Maß« (2012), als Querschnitt ihres theoretischen Wirkens. Am Montag ist Heidi Urbahn de Jauregui im Alter von 84 Jahren in Heidelberg gestorben, wie jW von der Familie erfuhr. Die Bestattung soll in Montpellier stattfinden.

Ihr großes Thema, der komponierte Nachname spiegelt es, waren die Überschneidungen des Deutschen und Französischen. 2009 erschien »Dichterliebe«, ihre Biographie der »Mouche« Elise Krinitz, der letzten Geliebten Heinrich Heines. Das Manuskript war praktisch druckreif, auch wenn ich lektorenseitig Gesprächsbedarf annoncierte, was die einzelnen Urteile betrifft. Urbahn de Jauregui hatte die Gabe, aus einem scheinbar toten Stoff verborgenes Leben zu ziehen. Ihre Art zu schreiben, so deutsch-französisch ihre Interessen waren, blieb entschieden französisch. Auch in der Literaturwissenschaft sah sie sich dem Idealbild des Montaigne-Essays verpflichtet. Schwungvoll, erzählerisch, Theorie zur Formel verdichtend. Was mitgedacht werden muss, lässt sich mitdenken. Theorieautoren deutscher Schulung mochte das irritieren, sie müssen immer alles ausbuchstabieren, präzis im Detail sein, ohne das große Ganze zu verlieren. »Ihr Problem ist, dass Sie immer alles bringen wollen«, sagte sie mir nach der Vorstellung des Buchs auf der Leipziger Buchmesse. Sie hatte einfach den Mut, nicht verstanden werden zu können. Im Zweifel zählt der Text, nicht der dümmste anzunehmende Leser, der einen auch dann nicht versteht, wenn man bis ins letzte gegangen ist.

Anders als André Müller – dem dritten im ebenso schwierigen wie produktiven Bunde – war Urbahn de Jauregui stilistisch Hacks ebenbürtig. Beinahe ebenbürtig. Ihre Analysen lesen sich leicht weg wie die Texte eines Droste oder Goldt. Politisch und was das Weltbild überhaupt betrifft, hatte Jauregui ihren eignen Kopf, auch wenn sie durchaus von Hacks geprägt schien. Das gilt in höherem Maße noch für die Jahre nach 1990 und besonders für die Zeit nach dem Tod des Dichters. Lenin im Herzen, selbstständig im Kopf – es gibt schlechtere Settings, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Zum Beispiel, wenn es sich umgekehrt verhielte.

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