Schönschrift, manchmal kyrillisch
Von Arnold SchölzelMaurice Thorez (1900–1964) führte von 1952 bis zu seinem Tod ein Tagebuch – zunächst aus medizinisch-therapeutischen Gründen, später zur Selbstverständigung. Der von 1930 bis 1964 amtierende Generalsekretär der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), einer der legendären Führer der kommunistischen Weltbewegung, hatte 1950 einen Schlaganfall erlitten, begann im Februar 1951 wieder mit dem Lesen und zwang sich ab dem 22. November 1952 täglich einen Satz zu schreiben. Mit zunehmender Arbeitsfähigkeit etwa ab 1956 wurden die Einträge länger. Die Faksimiles mit Fotografien, die im nun veröffentlichten Band enthalten sind, zeigen zumeist eine gut lesbare »Schönschrift«, manchmal in kyrillischen Buchstaben – Thorez las Lenin im Original und viele Werke von Marx und Engels in russischer Übersetzung.
Bis zum 10. Juli 1964 füllte er mit Notizen privater, politischer und kultureller Art ein Notizbuch und mehr als fünf Schulhefte. So entstand ein einmaliges Dokument, das 2021 auf französisch und nun auf deutsch mit Kommentaren versehen vorliegt – eine verlegerische Großtat.
Um mögliche Interessenten auf den Geschmack zu bringen, sei gleich an dieser Stelle aus einem Artikel Stefan Ripplingers zitiert, der am 8. April 2023 zum 50. Todestag Pablo Picassos in dieser Zeitung erschien: »Nach dem Tod Stalins hatte Picasso ihn so gezeichnet, wie er 1917 ausgesehen haben mochte. Der Stalin des Oktober, nicht das ›Väterchen der Völker‹ galt ihm etwas. Das führte zu einem Aufruhr der Funktionäre. Picasso war nicht amüsiert: ›Ihr haltet mich wohl für einen Volltrottel. Ich fertige eine Zeichnung als Hommage an, und dafür kriege ich von euch Tritte in den Arsch.‹ Der legendäre Parteiführer Maurice Thorez klärte die Angelegenheit. Thorez’ Tagebuch belegt, dass er mit dem Künstler in ständigem Kontakt stand. Unter dem 31. Januar 1963 notiert er, ein Genosse habe Picasso die Zeichnungen eines jungen sowjetischen Malers gezeigt. ›Pablo sagt: ‚Er soll nur weitermachen!‘ und fügt hinzu: ‚Man spricht gern von reinen Linien, aber wenn man es beispielsweise beim Zeichnen eines Gesichts in dieser Hinsicht zu weit treibt, kommt ein Ei heraus. Das ist die reinste reine Linie.‘‹ So hatte er Thorez beiläufig das Geheimnis seiner kalligrafischen Kunst und die Dialektik der Reinheit offenbart. Und Thorez war vermutlich der letzte Parteiführer, der für so etwas empfänglich war.«
Bergarbeiter
Thorez war Autodidakt wie viele Arbeiterführer seiner Generation: lesewütig seit der Kindheit und hochgebildet, in seinem Fall vor allem Künstlern gegenüber aufgeschlossen und von ihnen – das besagen die zahlreichen Tagebucheinträge über gegenseitige Besuche und den Genuss guter Küche – hoch geachtet. Der Grund war offensichtlich der Respekt vor seinem politischen Werdegang bis zu den 50er Jahren. Er sei deswegen hier skizziert.
Thorez wuchs in einer Bergarbeiterfamilie im nordfranzösischen Kohlegebiet auf. Nach dem Schulabschluss begann er mit zwölf Jahren sein Berufsleben in der »Grube Nr. 4« in seinem Geburtsort Noyelles-Godault als Steinsortierer. Ende September 1914 flüchtete er zusammen mit seiner Familie, die ins Zentralmassiv evakuiert wurde, vor der heranrückenden deutschen Armee. 1917 kehrte er nach Amiens zurück, arbeitete in verschiedenen Berufen und nach Kriegsende wieder als Bergarbeiter in der »Grube Nr. 4«. 1920 wurde er zum Militär eingezogen.
Bereits im März 1919 war Thorez der Gewerkschaft CGT und der Section française de l’Internationale ouvrière (Französische Sektion der Arbeiter-Internationale, SFIO, seit 1969 Parti Socialiste) beigetreten. Aus Begeisterung für die Oktoberrevolution wurde er zwei Monate später Mitglied im Parteikomitee für die Mitgliedschaft in der Dritten Internationale. Er war noch beim Militär, als im Dezember 1920 auf dem SFIO-Kongress in Tours der Antrag auf Aufnahme in die Kommunistische Internationale mit Dreiviertelmehrheit angenommen wurde. Zwei Drittel der SFIO traten der neuen Partei bei, der Section française de l’Internationale communiste (Französische Sektion der Kommunistischen Internationale, SFIC), die 1922 zur Kommunistischen Partei (PC) wurde und erst 1943 bei Auflösung der Kommunistischen Internationale (KI) den Namen PCF annahm.
Thorez kehrte im Frühjahr 1922 aus dem Militärdienst zurück und musste feststellen, dass sich die Bergwerksgesellschaft weigerte, ihn wieder einzustellen. Er arbeitete in einer Reihe kleinerer Jobs, wurde aber in der Kommunistischen Jugend und der Bergarbeitergewerkschaft aktiv. Thorez wurde schnell bekannt als energischer, rhetorisch begabter Verfechter der Einheitsfrontpolitik, die die Kommunistische Internationale auf ihrem III. Kongress 1921 auf Drängen Lenins beschlossen hatte, d. h. von den gerade durch Trennung von den sozialistischen Parteien entstandenen kommunistischen Parteien die Zusammenarbeit mit den »Verrätern« von 1914 verlangte. Das war nach dem Sieg der Bolschewiki 1917 in der Oktoberrevolution das vielleicht wichtigste Ereignis in der kommunistischen Weltbewegung – und blieb ein grundlegendes Problem oder besser eine Aufgabe, die deren spätere Führer wie Thorez zeitlebens beschäftigen sollte.
Sehr bald übernahm Thorez wichtige Funktionen innerhalb der Kommunistischen Partei, wurde 1924 ins Zentralkomitee gewählt und 1925 Mitglied des Politbüros. 1928 kandidierte er aus der Illegalität heraus erfolglos für die Nationalversammlung. Wegen Aktionen der Partei gegen den spanisch-französischen Kolonialkrieg in Marokko, in dem erstmals von Flugzeugen abgeworfenes Giftgas gegen die Bevölkerung eingesetzt wurde – mit gesundheitlichen Folgen bis heute –, verfolgte die Polizei die PC-Führung und besonders ihn: Er war für die Antikriegsmobilisierung verantwortlich. Am 9. Juni 1929 wurde er verhaftet und kam im April 1930 nach Zahlung einer Geldstrafe frei. Das Begleichen der Buße verstieß zwar gegen die Regeln der Partei, aber Thorez wurde gebraucht. Denn im PC fanden heftige Auseinandersetzungen mit linksradikalen Gruppen statt. Im Juli 1930 reiste eine Delegation der Parteiführung nach Moskau, wo er zum Generalsekretär bestimmt wurde. Erst kurz vor seinem Tod 1964 gab er das Amt wieder ab. Während der Reise in die Sowjetunion 1930 traf Thorez die Textilarbeiterin und Genossin Jeannette Vermeersch (1910–2001), die seine Partnerin und 1947 seine Ehefrau wurde.
Volksfrontarchitekt
Der PC befand sich damals in einer Krise: Die Zahl der Mitglieder hatte sich seit 1927 auf 25.000 halbiert, die »Sozialfaschismus«-These der KI die Partei in die Isolation geführt. Thorez bemühte sich, das Steuer herumzureißen, und proklamierte angesichts der Weltwirtschaftskrise und der faschistischen Diktaturen in Italien und Deutschland erneut die Einheitsfront und die Hinwendung zu den Massen der Ausgebeuteten sowohl in Frankreich als auch in den Kolonien, in denen Frankreich brutale Kriege führte. In einem Artikel, der am 11. März 1933 in L’Humanité erschien, rief er zur Organisation einer »gemeinsamen Front« mit den Sozialisten auf. Bereits im Januar 1933 hatte er Mitglieder der SFIO getroffen, was von der KI zunächst verurteilt wurde. Als Thorez nach der Machtübergabe an Hitler in Deutschland von der KI verlangte, sich mit der Sozialistischen Arbeiterinternationale in Verbindung zu setzen, wurde das noch zurückgewiesen. In seinem Bericht an das Zentralkomitee im Oktober 1933 tauchte dann erstmals die Formel »Front populaire« – Volksfront – auf, aber noch im Dezember 1933 musste er sich in Moskau vom PC-Delegierten bei der KI, André Marty, eine scharfe Kritik wegen »demokratischer Illusionen« anhören. Auch Thorez kritisierte immer wieder die Sozialisten, aber nach dem faschistischen Putschversuch am 6. Februar 1934 drängten die Anhänger von PC und SFIO nach gemeinsamen Aktionen, ebenso die ihnen nahestehenden Gewerkschaften. Am 11. Juni 1933 trafen sich Delegationen der SFIO und des PC, und Thorez vertrat von nun an energisch die Aktionseinheit mit den Sozialisten und der Radikalen Partei.
Am 14. Juli 1935, dem Jahrestag der Revolution von 1789, versammelte sich in Paris mehr als eine halbe Million Menschen im Zeichen der Volksfront und im Hochgefühl der wiedergewonnenen Einheit der Linken. Im Frühjahr 1936 gewann die Liste der Volksfront die Parlamentswahlen mit 57 Prozent der Stimmen, die Kommunisten traten aber nicht in die Regierung ein, sondern tolerierten sie. Der Historiker Eric Hobsbawm hat darauf hingewiesen, dass die drei Parteien im Vergleich zu den Wahlen von 1932 insgesamt lediglich einen Prozentpunkt mehr gewonnen hatten, was die »dramatischen Kosten der vergangenen Uneinigkeit« zeige.
Thorez war auf dem Höhepunkt seiner Popularität, aber die Unterzeichnung des Münchner Abkommens durch Frankreich im September 1938 und des Nichtangriffsvertrages zwischen Deutschland und der Sowjetunion am 23. August 1939 veränderte die Situation des PC völlig. Die damals entfachte antikommunistische Hysterie schlägt bis heute Wellen. Erinnert sei an die maßgeblich aus den baltischen Republiken, von Václav Havel und Joachim Gauck erfolgreich vorangetriebenen Bemühungen, dieses Datum zum EU-Gedenktag zu machen. Am 25. August 1939 wurde L’Humanité verboten, am 26. September traf es den PC und alle kommunistischen Organisationen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die KI Thorez, der zum Militär eingezogen worden war, bereits aufgefordert, zu desertieren, was er nach Absprache mit der Parteiführung auch tat. Er gelangte zusammen mit Jeannette Vermeersch am 8. November 1939 nach Moskau und wurde in Abwesenheit im Dezember 1939 von einem Militärgericht zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, nach Aberkennung seines Parlamentsmandats im April 1940 zu weiteren fünf Jahren Haft und Entzug seiner bürgerlichen Rechte. Er war einer der wenigen Franzosen seiner Generation, die an keinem der beiden Weltkriege teilnahmen.
Die Interessen der Arbeiter und der kolonial Ausgebeuteten, die Verteidigung der 1789 revolutionär geschaffenen Republik und der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern – das bestimmte seine Weltsicht und sein politisches Handeln nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende 1944 war er wieder in Frankreich, erhielt per Dekret die 1940 entzogene Staatsbürgerschaft zurück und trat Ende 1945 in die Regierung von Charles de Gaulle ein. Als Minister setzte er bis 1947, als der Kalte Krieg die Kommunisten aus der Regierung fegte, wichtige Sozialgesetze durch, von denen heute einige vom Banker Emmanuel Macron, Politiker im Nebenberuf, bekämpft werden.
Chronist
Die Einträge im Tagebuch sind insgesamt ein Spiegelbild der Zeit und einer Persönlichkeit, die unerschütterlich für die Unabhängigkeit der Französischen Republik und für die Sowjetunion eintrat. Auch in Frankreich steigerte sich der Antikommunismus des Kalten Krieges in den 50er Jahren regelmäßig zur Hysterie – etwa im Koreakrieg, als der PCF verdächtigt wurde, eine zweite Front im Westen eröffnen zu wollen –, vor allem aber führte Frankreich in Südostasien und in Algerien weiterhin brutale Kolonialkriege. Der PCF prangerte Massaker und Folter an. Die Spannungen zwischen den damals einzigen Atommächten USA und Sowjetunion sah Thorez – folgt man den Einträgen – mit ziemlicher Gelassenheit: Es war die Zeit der großen sowjetischen Raumfahrterfolge, die er in seinen Notizen immer wieder stürmisch feierte. Der Bucheinband zeigt insofern richtigerweise ein Foto von Thorez und Juri Gagarin. Manche Ereignisse hängt er tief: Zur DDR-Grenzsicherung am 13. August 1961 notiert er lediglich: »Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzen von Westberlin.« Zur Kuba-Krise: »25. Oktober 1962: Politbüro: Aggression der Yankees gegen Kuba.«
Die wachsenden Spannungen unter kommunistischen Parteien bis hin zum Bruch zwischen der KP Chinas und der KPdSU Anfang der 60er Jahre verfolgte Thorez distanziert, ebenso wie die Politik Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 und in den Jahren danach. So schnell wie die sowjetische Nomenklatura war er mit Stalin nicht fertig. Er machte sich zudem selbst ein Bild, sprach mit Mao Zedong und Enver Hoxha, bevor er wegen ihrer antisowjetischen Haltung klar gegen beide Stellung bezog. Er hatte Ho Chi Minh, der 1920 zu den Gründern des späteren PCF gehörte, immer wieder zu Gast oder traf ihn in der Sowjetunion. Gleiches galt für Kommunisten und andere Kämpfer aus den französischen Kolonien oder die Kampfgefährtin Dolores Ibárruri. Besondere Sorge bereitete ihm die Entwicklung der italienischen KP hin zum Reformismus.
Sein Bücherhunger blieb unstillbar. Die Kommentatoren des Tagebuchs meinen, Thorez habe vor allem Literatur aus den Parteiverlagen gelesen. Das besagt aber vor allem, dass der PCF in den 50er und 60er Jahren eine unvergleichliche kulturelle Institution in Frankreich war. Denn das Tagebuch enthält Hunderte Einträge zu Autoren der Philosophie, der Ökonomie, der Geschichte und der Weltliteratur: »Ich lese jetzt …« – Lukrez, Seneca, Spinoza, Diderot, Holbach, Goethe, Robert Merle, Louis Aragon, Vercors. Politische Literatur: Blanqui, Saint-Just, Babeuf, Marx und Engels (meist auf russisch) und immer wieder Lenin, Stalin, aber auch Clausewitz. Das Tagebuch zeigt einen Politiker, der von Natur aus größtes Bedürfnis nach Erstklassigem aller Zeiten hatte. Mittelmaß oder Gedankenfreies interessierte ihn nicht. Von seinem Sekretär ließ er sich in Latein unterrichten. So kam es nicht selten zu Notizen wie dieser vom 6. April 1964: »Ich widme mich wieder dem Latein mit Agricolas ›De re metallica‹. Ich lese den schönen Roman von Jesus Izcaray ›Vivre à Madrid‹. Besuch von Waldeck. De Gaulle weigert sich, die Agrarchefs zu empfangen.« Aus dem Tacitus hält er fest: »›Das Volk spürte nach und nach die Übel des Krieges, da das ganze Geld für militärische Zwecke ausgegeben wurde und die Preise für Lebensmittel stiegen.‹ Aktueller geht’s nicht!«
Und das Tagebuch zeigt: Thorez war nicht nur ein Familienmensch, der sich unentwegt liebevoll um seine Gefährtin, um die gemeinsamen drei Söhne und um seine Mutter kümmerte, er hatte wie erwähnt engste Freunde unter Künstlern von Weltrang, darunter Fernand Léger, Pablo Picasso, Louis Aragon und Elsa Triolet. Thorez legte viel Streit zwischen Schriftstellern, Malern, Wissenschaftlern und dem PCF bei, nicht nur den mit Picasso. Eines der Häuser, die Thorez als Mieter der Partei bewohnte, stand in Südfrankreich nicht weit von dem des Malers. Sie müssen in ständigem Austausch gestanden haben, das Tagebuch erfasst vermutlich nur einen kleinen Teil dieser Freundschaft.
Die beiden deutschen Staaten kommen im Tagebuch naturgemäß höchst unterschiedlich vor. Auf der einen Seite hatte Thorez enge, gute Beziehungen zu Walter Ulbricht und anderen Genossen der SED. Ulbricht, selbst ein Autodidakt, der Kunst und Wissenschaft mit größtem Respekt in sich aufsog, erscheint wie ein Geistesverwandter – in bezug auf das »Volksfront«-Konzept ohnehin, aber auch im Begriff vom Sozialismus als »relativ selbständiger Gesellschaftsformation« des DDR-Politikers schimmert etwas von der Notwendigkeit durch, wirklich alle sozialen Schichten und Gruppen der Nation einzubeziehen.
Die BRD wird im Tagebuch mit Verachtung und Widerstand konnotiert: Die Einträge erinnern an das Marx-Verdikt von 1844: »Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten.« Als die Adenauer-Regierung die Frechheit besaß, den Altnazi und Bundeswehrgeneral Hans Speidel für einen NATO-Posten ausgerechnet in Paris vorzuschlagen, skandalisierten das Thorez und der PCF. Speidel war ab 1940 in der französischen Hauptstadt Stabschef der faschistischen Besatzer gewesen, befasst mit dem Kampf gegen die Résistance und den Judenmord. Erst de Gaulle, dem Speidel ebenfalls zuwider war, drängte den Deutschen 1963 aus dessen Stellung als NATO-Kommandeur. Charakterisierend in diesem Sinn ist auch der Eintrag vom 22. Februar 1957 zu den Verhandlungen über die Verträge, die zur Gründung der heutigen EU führten: »Die deutsche Regierung begrüßt den Entwurf eines Vertrags über ›Eurafrika‹, der es ihr ermöglichen würde, von der Ausbeutung der afrikanischen Völker zu profitieren, die mit dem Blut junger Franzosen unter dem Kolonialjoch gehalten werden.«
Als Thorez starb, säumten in Paris »500.000 Menschen die Straßen, um sich von ihm zu verabschieden«, schreibt Patrik Köbele im Vorwort. Das Tagebuch erklärt, warum ein Verteidiger der Sowjetunion und kommunistischer Politiker so populär werden konnte. Es ist eine Fundgrube für alle, die genauer wissen möchten, wie ein zutiefst internationalistischer und patriotischer Kommunist jene Zeit sah, was ihn leitete und welche Weichen damals bis ins Heute gestellt wurden.
Maurice Thorez: Tagebuch 1952–1964. UZ-Edition/Commpress Verlag, Essen 2024, 860 Seiten, 35 Euro. Bezug: uzshop.de
Aus dem Tagebuch
Mi., 25. (November 1953): Picasso kommt zum Mittagessen.
Di., 8. (Dezember 1953): Eisenhower spricht über die atomare Bedrohung und schlägt eine internationale Agentur für die Kontrolle der Uranreserven vor! Wie wäre es mit der Zerstörung von Bomben? (Als die Unterzeichner des Stockholmer Appells die atomare Bedrohung anprangerten, sagten die Amerikaner und ihre Agenten: Ihr wollt uns eine Waffe wegnehmen, die die UdSSR nicht besitzt und die uns die Überlegenheit verschafft.)
Fr., 22. (Januar 1954): Besuch von Aragon. Ideologische, literarische und künstlerische Probleme. Besuch bei Picasso und Pignon. Aragon bringt mir einen Brief von Jeannette.
Mi., 17. (März 1954): Fertig mit dem Studium des ersten Bandes von Caesars Kommentaren in Latein. »Wenn die Herren der Sklaven zu Sklaven werden, erweisen sie sich immer unterwürfiger als alle anderen.«
Do., 18. (März 1954): »Revolutionen, die nicht Gefahr laufen, eine Niederlage zu erleiden, gab und gibt es nicht, wird und kann es nicht geben. Als Revolution bezeichnet man den verzweifelten Kampf der Klassen, der die größte Erbitterung erreicht hat.« Lenin (in kyrillischen Buchstaben, deutsch: Lenin, Werke, Band 29, Seite 359)
Sa., 27. (März 1954): Wir fahren nach Marseille (338 Kilometer hin und zurück). Ich steige fröhlich die zwei Stockwerke zum Sitz der Kommunistischen Föderation hinauf. Überraschung und Freude der Genossen. Darauf einen Wein!
So., 28. (März 1954): Die Sowjetunion erkennt die volle Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik an.
Mo., 29. (März 1954): Die USA wollen einen Waffenstillstand in Indo-China verhindern.
Di., 5. (November 1957, Moskau): Besuch von Ho Chi Minh. Ich muss ins Bett: Katarrh, Muskelkater.
Mi., 6. (November 1957): Eröffnung der Tagung des Obersten Sowjets. Bericht von Chruschtschow.
Do., 7. (November 1957): Parade zum 40. Jahrestag. Empfang im Kreml. Ich liege immer noch im Bett. Besuch von Mao Zedong. Wir sprechen zwei Stunden lang. Volles Einvernehmen.
Mo., 4. (August 1958): Mitteilung über das Treffen in Peking zwischen Chruschtschow und Mao Zedong. Sie warnen in einem Brief die Imperialisten davor, dass wenn diese es wagen sollten, einen Krieg herbeizuführen, sie »für immer« mit ihnen Schluss machen und »ewigen Frieden auf der ganzen Welt« schaffen werden.
Do., 18. (Dezember 1958): Mao Zedong gibt die Präsidentschaft in der Republik auf, um sich den Führungsaufgaben der Partei und speziell der theoretischen Arbeit zu widmen. (…) Das schöne Buch von Aragon »Die Heilige Woche« wird einhellig gelobt von der »Kritik«, die natürlich versucht, ihn gegen die »Kommunisten« auszuspielen.
Sa., 8. (Oktober 1960): In der berühmten Rede in Brazzaville im Februar 1944, als die Gaullisten die Legende von einem de Gaulle als Befreier und Antikolonialisten in die Welt setzen wollten, hat er folgendes behauptet: »Die Ziele des von Frankreich in den Kolonien vollbrachten Zivilisationswerks schließen jeden Gedanken an Autonomie, jede Möglichkeit einer Entwicklung außerhalb des französischen Imperiums, die eventuelle, auch entfernte Entstehung von Selbstverwaltungen in den Kolonien aus.«
Sa., 15. (April 1961): Die Amerikaner lassen ihre Söldner drei kubanische Städte bombardieren: zehn Tote, 54 Verletzte. Castro ordnet die allgemeine Mobilmachung an. Ein Jahr nach dem Besuch von Chruschtschow spricht de Gaulle in Bergerac von einem »gewissen Diktator, … von dem Frankreich (!) sich keine Lektionen erteilen lassen wird«, und behauptet, »dass die UdSSR viel für die Menschheit zu tun hat«, während die ganze Welt den Hut vor Gagarins Leistung zieht.
Di., 18. (April 1961): (…) Die kubanischen Streitkräfte halten die Invasoren in Schach. Dringende Botschaft von Chruschtschow an Kennedy. Er bittet ihn, die US-Intervention gegen Kuba, das von der UdSSR gegen die Aggressoren unterstützt werden soll, zu beenden.
Do., 20. (April 1961): Vollständiger Sieg in Kuba, wo die Invasionstruppen, die von den USA organisiert, ausgebildet und »auf die Beine gestellt« worden waren, in weniger als 72 Stunden vernichtet wurden. (…) Habe das Buch von (Georges) Soria »Kuba in der Zeit von Castro« gelesen.
Mi., 21. (November 1963): Spaziergang in Mons und Fayence. Ich beginne die Memoiren von Saint-Simon zu lesen.
Do., 22. (November 1963): Kennedy fällt Feinden der internationalen Entspannung und der Nichtsegregation zum Opfer (…).
Fr., 17. (April 1964): 70. Geburtstag von Chruschtschow, dem wir, ebenso wie unsere Genossen in aller Welt, einen liebevollen Gruß senden. Mao ist so unverschämt, dass er Chruschtschow beglückwünscht, nachdem er ihn so oft beleidigt und verleumdet hat.
So., 19. (April 1964): Militärputsch in Laos. Ich halte auf der Konferenz meiner Sektion eine Rede gegen die abenteuerliche und halbtrotzkistische Linie der chinesischen Führung.
So., 10. (Mai 1964): (…) Die chinesischen Parteichefs verschieben die Einberufung einer internationalen Konferenz »um vier oder fünf Jahre, vielleicht sogar noch länger!« Sie wollen Zeit gewinnen und ihre Spaltungstätigkeit ohne Gegenwehr ausbauen.
Do., 9. (Juli 1964): Balzac sagte bereits 1829: »Literatur ist der Ausdruck der Gesellschaft.« Im Vorwort zu seiner »Menschlichen Komödie« im Jahr 1842 stellte er sich die Aufgabe, ein Werk zu schreiben, das »die Geschichte und die Kritik der Gesellschaft, die Analyse ihrer Übel und die Erörterung ihrer Prinzipien umfasst.« Er sagte auch: »Ständige Arbeit ist das Gesetz der Kunst und des Lebens.« Picasso wiederholt ebenfalls oft: »Man muss arbeiten«, und er war noch nie so fruchtbar wie mit 82 Jahren!
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