Projekt Rente mit 69
Von Klaus FischerDer Fachkräftemangel ist nach Ansicht maßgeblicher Ökonomen eines der größten Probleme Deutschlands. Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Rente, der weniger zahlreiche Nachwuchs studiert lieber Soziologie als Ingenieurwissenschaften und die ökonomischen Vorteile der Migration sind weiterhin kaum zu erkennen. Da die Politik wie immer ratlos zu sein scheint, sprangen wieder einmal Forscher in die Bresche. Am Freitag präsentierte das Institut für Wirtschaftsforschung München (Ifo-Institut) eine Studie, in der es »kontroverse« Lösungsvorschläge untersuchte.
Die Rezepte sind nicht neu. Allerdings scheint die Zeit für härtere soziale Bandagen in Deutschland herangerückt zu sein. Längere Lebensarbeitszeiten, Einschnitte durch höhere Abschläge bei Renten, Wegnahme von Begünstigungen für Eheleute bei Einkommenssteuer und Sozialabgaben sollen nach Berechnungen der Studie geeignete Mittel sein, den Kräftemangel in der Wirtschaft zumindest zu lindern.
Der Kerngedanke dieser Maßnahmen ist klar: Die Betroffenen sollen dazu bewegt werden, länger berufstätig zu sein – oder Nachteile in Kauf zu nehmen. Bei den in der BRD gezahlten Durchschnittsrenten – Stichtag 31. Dezember 2022 erhielten nach 45 Versicherungsjahren Männer 1.637 Euro monatlich, Frauen 1.323 Euro – ist für die meisten an und unterhalb dieser Grenze der Druck ohnehin groß, etwas hinzuzuverdienen. Der Betrag liegt nach den jüngsten Anpassungen aktuell etwas höher, ist allerdings längst nicht hoch genug, um sich dem Ansinnen, länger zu arbeiten, entgegenzustellen. Die genannten (Zwangs-)Maßnahmen ergäben laut Studie einen »Beschäftigungsgewinn«, der etwa 1,2 Millionen Vollzeitjobs entspräche.
Den Forschern darf zugute gehalten werden, dass sie sich der Brisanz dieser Vorschläge bewusst sind. Sie werden von Wirtschaftslobbyisten gefordert oder befürwortet, von Gewerkschaften und Sozialverbänden jedoch abgelehnt. Grundansatz aber scheint zu sein: Der Zweck heiligt die Mittel.
Mit den als »kontrovers« bezeichneten Ideen will man offenbar zum einen die älteren, abhängig Beschäftigten in die Mangel nehmen, zum anderen Frauen, die vergleichsweise früh aus dem Arbeitsleben ausscheiden bzw. teilzeitbeschäftigt sind. Und das gleich von mehreren Seiten: Mit dem Rentenrecht, dem Steuerrecht und nicht zuletzt mit der aktuellen wirtschaftlichen Realität. »Das Steuer- und Abgabensystem in Deutschland kann definitiv so umgebaut werden, dass der Arbeitskräftemangel gemildert wird«, zitierte die Nachrichtenagentur dpa am Freitag Volker Meier, einen der Studienautoren.
Die Ifo-Folterliste ist recht lang. So könnte schon die Anhebung des Rentenalters von 67 auf 69 Jahre »einem Gewinn von 473.000 Vollzeitjobs entsprechen«, schrieb dpa. Auch höhere Abschläge für den vorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitsleben als bisher hätten laut Studie einen spürbaren Effekt. Bereits jetzt wird die Rente bei vorzeitigem Renteneintritt um 0,3 Prozent pro Monat gekürzt. Ein Penalty von 0,5 Prozent pro Monat könnte demnach einen Beschäftigungsgewinn von knapp 180.000 Vollzeitjobs bringen. Und die Abschaffung der Rente mit 63 bedeutete das Äquivalent von 157.000 Vollzeitbeschäftigten. Auch der Wegfall der beitragsfreien Mitversicherung für Eheleute in der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung würde dem Zweck dienen. Sie könnte viele Menschen zu mehr oder längerer Berufstätigkeit »bewegen«.
Steuerrechtlich haben die Autoren vor allem das sogenannte Ehegattensplitting im Visier. Die gemeinsame Versteuerung des Einkommens von Eheleuten wurde einst als familienfreundliche Maßnahme eingeführt. Heute gelten die steuerlichen Vorteile, die sich aus der Zusammenveranlagung ergeben, wenn ein Partner weniger verdient, offenbar als veraltet. Dass dieser Blickwinkel das demographische Problem noch verschärfen könnte, scheint keiner zu befürchten.
In der Studie sind weitere Felder benannt, bei denen der Rotstift – hier Umbau genannt – angesetzt werden kann. Beispielsweise würden 400.000 zusätzliche Kinderbetreuungsplätze einen »Beschäftigungsgewinne« von etwa 58.000 Vollzeitäquivalenten bringen. Dass dafür Zehntausende Fachkräfte zusätzlich nötig wären, haben die Autoren hoffentlich nicht vergessen. Studienautor Meiers Credo: »Angesichts des Alterungsschubs und des Arbeitskräftemangels muss unser Steuer- und Sozialsystem konsequent Erwerbstätigkeit belohnen. (…) Dabei kommt es auf jeden Beschäftigungsanreiz an.«
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Leserbrief von B.S. aus Ammerland (19. August 2024 um 09:48 Uhr)Der Kapital-Faschismus mausert sich unter der Ampelregierung. Reiche werden reicher, Arme werden ärmer und die Finanz- und Wirtschaftspolitik steuert das Staatsschiff auf die Klippen zu. Was erfreut da die Neoliberalen in allen Systemparteien gerade zu? Genau die alte Sündenbockpolitik plus das Modell des sozialverträglichen Ablebens. Ein sehr beliebter Schritt. Die Rente mit 69. Was natürlich in Wirklichkeit die Vorstufe zur Rente mit 70 ist. Aber das Verständnis der Bevölkerung wird berücksichtigt, weil rein rechnerisch ab fünf aufgerundet wird, was einige noch in Erinnerung haben. Und die Akzeptanz ist dann grösser? Die CDU/CSU ist da bereits weiter. Die hat das »Japanische Modell« für sich und ihre Freunde entdeckt. In Japan arbeiten sich Tausende zu Tode im Jahr! Und entlastet das nicht die Rentenkasse enorm? Ich möchte nicht wissen, wie hoch die Lücke in der Rentenkasse wäre für die Ampel, hätte es die Pandemie nicht gegeben. Aber bei Lindner, Scholz und dem Wirtschaftsvollwaisen Habeck bin ich mir sicher, ihre neoliberalen Ziele hätten nicht gelitten.
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Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (19. August 2024 um 08:00 Uhr)Leider geht der Autor nicht darauf ein, dass die Rentenkasse nur das Geld an die Rentner auszahlen kann, das die Berufstätigen über ihre Beträge in die Rentenkasse einzahlen. Das Argument, dass die Anhebung des Rentenalters von 67 auf 69 Jahre einem Gewinn von 473.000 Vollzeitjobs entspricht, bedeutet nicht, dass damit die Rentenkasse »Gewinn« macht. Denn dabei ist zu berücksichtigen, dass die Lebenszeit nach wie vor steigt, und damit auch die Summe der auszuzahlenden Renten. – Vor einiger Zeit wurde sogar noch gefordert: Die Lebensarbeitszeit solle verkürzt und die Rente erhöht werden. Das hätte zur Formel: »Kürzere Lebensarbeitszeit ergibt höhere Rente« geführt! Vernünftigerweise hört man diese Forderung inzwischen nicht mehr.
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Leserbrief von Arvid Loerke aus Oranienburg (21. August 2024 um 10:36 Uhr)Entgegen der hiesigen Propaganda steigt die Lebenserwartung der gesetzlich Zwangsversicherten nicht, sie fällt. Sie steigt hingegen bei denjenigen, deren Leben ein einziger Sonntag ist und die nicht (!) in die gesetzlichen Rentenkassen einzahlen müssen. Politiker, höhere Beamten, Millionäre und Milliardäre usw. Besser und Bestverdienende, reiche Erben, Vermögende, sogenannte Wirtschaftsexperten, kurzum: alle, die von Ihren eigenen Vorschlägen nicht betroffen sind. In den vergangenen zwei Jahren sind vier Freunde von mir verstorben. Nicht einer von denen hat es geschafft 70 zu werden. Eine gesetzliche Sozialversicherungspflicht für ausnahmslos alle in diesem Land erzielten Einkommen und die Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre überhaupt kein Thema.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (19. August 2024 um 14:51 Uhr)Sehr geehrter Herr Pfannenschmidt, hat Sie diese Meldung der Tagesschau zu Ihrer Argumentation veranlasst?: »Lebenserwartung erneut gesunken, Stand: 06.09.2023 15:43 Uhr, Im dritten Jahr in Folge ist die Lebenserwartung in Deutschland zurückgegangen. 2022 lag sie laut aktuellen Zahlen unter dem Niveau vor der Corona-Pandemie. Diese zeigen auch: Es gibt regionale Unterschiede. Die Lebenserwartung in Deutschland ist 2022 erneut gesunken. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sie sich laut Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) um mehr als ein halbes Jahr verringert. Demnach fiel die Lebenserwartung bei Männern von 78,7 auf 78,1 Jahre, bei Frauen von 83,5 auf 82,8 Jahre.« (https://www.tagesschau.de/inland/deutschland-lebenserwartung-102.html)
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (19. August 2024 um 07:13 Uhr)Und es wird noch viel dicker kommen. Diese massive Hochrüstung wird zu weiterer extremer Staatsverschuldung führen, die den Gestaltungsspielraum der (Sozial-)Politik noch stärker einschränken und den Griff in die Rentenkasse ebenfalls noch weiter forcieren wird. Sollte die Wehrpflicht wieder aktiviert werden (sie ist ja nicht abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt), werden dem Arbeitsmarkt noch weniger junge Menschen zur Verfügung stehen. Eine weitere Heraufsetzung des Renteneintrittsalters wird zwar zur weiteren Absenkung der durchschnittlichen Lebenserwartung und damit zur Reduzierung der Rentenbezugsdauer und zur »Entlastung« der Rentenkasse führen, dafür werden aber im Gegenzug die Gesundheits- und Pflegekosten für die so Kaputtgeschufteten drastisch steigen, einhergehend mit weiter zunehmender allgemeiner Verarmung und Verelendung. Im Ergebnis heiß das, das Krebsgeschwür des Kapitalismus frisst die Zivilgesellschaft weiter auf und lässt ein Leben in Würde künftig für immer weniger Menschen zu.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (18. August 2024 um 22:11 Uhr)Mein Arbeitszeugnis für Studienautor Meier: Er hat sich stets bemüht, unseren Anforderungen gerecht zu werden. Zur Belohnung darf er mir monatlich fünftausend Euro überweisen.
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