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Aus: Ausgabe vom 19.08.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Wirtschaftsliberalismus

Argentinien verarmt

Fortgesetzte Umsatzeinbrüche bei Waren des täglichen Bedarfs. »Das Schlimmste ist vorbei«, behauptet Präsident Milei, aber es kommt wohl erst noch
Von Volker Hermsdorf
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»Nie dagewesene Katastrophe« (Gemüsehändler in Buenos Aires)

Argentiniens Wirtschaft befinde sich »im freien Fall«, titelte die Tageszeitung Página 12 am Freitag. In der ersten Augustwoche hätten die Supermärkte des Landes Umsatzeinbrüche von durchschnittlich 21 Prozent zu verzeichnen gehabt. Die Schwächung der Kaufkraft durch Sozialraub und Reallohnverluste habe dramatische Auswirkungen, erklären linke Ökonomen und sprechen von einem Szenario, das verheerender sei als die Coronakrise oder die Staatspleite im Jahr 2001. Und während auch viele Geschäftsleute von einer »noch nie dagewesenen Katastrophe« sprechen, erklärt die Regierung: »Das Schlimmste ist vorbei.« Der rechte Staatschef Javier Milei feiert den Rückgang der Inflation auf vier Prozent im Juli als Triumph seiner neoliberalen Politik.

Er beruft sich auf das Nationale Institut für Statistik und Volkszählung (INDEC), demzufolge die Inflationsrate im Juli gegenüber dem Vormonat um 0,6 Punkte sank und sich der Preisanstieg auf vier Prozent verlangsamte. »Let’s go, Toto carajo«, gratulierte Milei seinem Wirtschaftsminister Luis »Toto« Caputo auf X. Er ignorierte geflissentlich, dass die Teuerung gegenüber Juli 2023 mit 263,4 Prozent nach wie vor erschreckend hoch ist. Dazu hat eine von Milei und Caputo im Dezember angeordnete Abwertung des argentinischen Peso maßgeblich beigetragen. Die Regierungsmaßnahme führte zunächst zu einem weiteren Anstieg der Preise und einer sinkenden Nachfrage.

Weil Lagerbestände zu verkommen drohten, lockten die Lebensmittelhändler mit Sonderangeboten. Die Geschwindigkeit der Preissteigerungen nahm dadurch ab. Allerdings ist diese »Disinflation« nicht bei den durchschnittlichen Verbrauchern angekommen, wie Página 12 am Freitag berichtete. Erhöhungen der regulierten Preise für den öffentlichen Personennah- und -fernverkehr, für Benzin, Energie, Schul- und Mautgebühren etc. hätten »die Kaufkraft des unteren und mittleren Einkommenssektors zunichte gemacht«, so die Zeitung. Preise für vier Fünftel des Grundwarenkorbs seien vom Staat erhöht worden. Trotz des verzweifelten Versuchs, den Konsum durch Rabatte von mehr als 30 Prozent anzukurbeln, verkauften die Geschäfte weniger als in der Krise von 2001, so die Zeitung. Damals mussten in Buenos Aires mehr als die Hälfte aller Geschäfte schließen. Argentinien wurde zu einem der ärmsten Staaten der Welt. »Das Glas ist halb voll oder halb leer. Die Inflation geht zurück, bleibt aber auf einem sehr hohen Niveau«, relativierte Gabriel Rubinstein, stellvertretender Wirtschaftsminister in den Jahren 2022 und 2023, Mileis Eigenlob gegenüber der russischen Agentur Sputnik.

Handwerker, Dienstleister und andere Geschäftsleute erklärten gegenüber Página 12, »die Angst, Geld auszugeben«, sei »überall spürbar: Es gibt keine Sicherheit.« Die finanziellen Mittel von Familien, die noch ein regelmäßiges Einkommen haben, gingen für Steuern, Gebühren, Strom, Gas, Wasser und Fahrgeld drauf. Nach Angaben des Beratungsunternehmens Scentia sank der Umsatz im Einzelhandel und der von kleinen und mittleren Unternehmen im Juli im Vergleich zum Vorjahresmonat um 16,1 Prozent, vier Prozentpunkte mehr als im Juni (12,4). Es war nach den Datensätzen der Firma der siebte Monat in Folge mit solch erheblichen Rückgängen. Vergleichbares sei nie zuvor erhoben worden. Der erneute Rückgang um 21 Prozent in der ersten Augustwoche legt nahe, dass »das Schlimmste« längst noch nicht vorbei ist, wie Milei behauptet. »Es handelt sich um eine noch nie dagewesene Katastrophe«, erklärte ein Geschäftsmann gegenüber Página 12.

Überall werden nun Vergleiche mit der schweren sozialen Krise des Landes unter der Regierung des rechten Präsidenten Mauricio Macri in den Jahren 2015 bis 2019 gezogen. Im Juli 2016, dem schwärzesten Monat dieser Amtszeit, sank der Konsum im Jahresvergleich um gerade mal 4,5 Prozent, was damals alle Alarmglocken schrillen ließ. »Nicht zufällig war der Grund für den Einbruch derselbe wie heute, nämlich die vollständige Deregulierung der Preise und Tarife, die den mittleren Sektor erdrückte«, hieß es in Página 12. »Bei Milei kommt nun die Idee hinzu, eine brutale wirtschaftliche Depression zu erzeugen, um eine Nullinflation zu erreichen.«

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