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Aus: Ausgabe vom 19.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Mit »Stasi-Walter« an der Bar

Kraftbrühe für Kim Il Sung: Ein »Eisenbahntheater« über Hotels in der DDR tourt durch die Lande
Von Florian Neuner
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»Wenn jemand eine Reise tut, so kann sie was erzählen«

Das Hotel Lunik in Eisenhüttenstadt ist schon lange eine Ruine. Einst das erste Haus am Platz, gelegen am Eingang zur Leninallee, die nach dem Anschluss der DDR an die BRD zu einer nichtssagenden Lindenallee mutierte, verfügte es über eine Nachtbar mit großstädtischem Flair und beherbergte internationale Delegationen. Ein noch betrüblicheres Schicksal blieb dem Aushängeschild der früheren Bezirkshauptstadt Frankfurt/Oder nicht erspart. Das Hotel Stadt Frankfurt wurde in den 1990er Jahren verscherbelt und schließlich ebenso abgerissen wie die gegenüberliegende Brunnenanlage am zentralen Platz. Heute steht dort ein gesichtsloses, nicht eben florierendes Einkaufszentrum. Die Künstlergruppe »Das letzte Kleinod« hat nun Geschichten zusammengetragen, die sich um diese Beherbergungsbetriebe ranken, und damit einen Theaterabend gestaltet, der ebenso aufschlussreich wie vergnüglich ist.

Sommertheater bedeutet meist leider Niveausenkung; man hält das Publikum in den Hitzetagen offenbar für dümmer und anspruchsloser als sonst. Dass es auch anders geht, zeigt die niedersächsische Gruppe »Das letzte Kleinod« mit ihrem sogenannten Eisenbahntheater. Vom Bahnhof Geestenseth aus starten die Theatermacher mit ihrem ozeanblauen Zug, in dem sie leben, arbeiten und der auch als Bühne dient, zu ihren Tourneen. In »Hotel Einheit« wird das Publikum in mehrere »Reisegruppen« aufgeteilt, in den Waggons sind unter Verwendung von Originalobjekten verschiedene Bühnenbilder angedeutet: Hotelzimmer, Küche oder Direktorenbüro; auch in einem Speisewagen nehmen die Zuschauer Platz und können dort in Originalspeisekarten aus den Hotels schmökern. Alternierend mit den intimeren Settings in den Wagen begegnen sich die Reisegruppen auf dem Platz vor dem Zug, wo auch musiziert und getanzt wird.

Die Hotels in Frankfurt und Eisenhüttenstadt hatten den Anspruch, Hotellerie auf internationalem Niveau zu bieten, und die Mitarbeiter waren stolz darauf – auch wenn es in der Küche oft zuging »wie in der Armee«. Das wird im Interconti Frankfurt am Main aber kaum anders sein. Man bezog besondere Produkte, etwa Kaviar aus »Russenmagazinen« zur Versorgung der sowjetischen Soldaten. Richard Gonlag als Koch berichtet aus der Küche, Kristina Günther vom Dresscode der Servierkräfte, die den älteren Herren aus den Delegationen eine Augenweide sein sollten, Sven Reese als Hoteldirektor erinnert sich an einem trinkfesten »Stasi-Walter« im Hotel Lunik und die große Präsenz der Staatssicherheit in den Vorzeigehotels. Eine andere Servierkraft (Margarita Wiesner) muss einsehen, dass ihre Karriere ohne Parteieintritt stagniert und kündigt frustriert.

Regisseur Jens-Erwin Siemssen will es nicht besser wissen als seine Zeitzeugen. Auf die Geschichten, die ein anderthalbstündiges Mosaik bilden, kann sich jeder selbst seinen Reim machen. Berührend etwa die Erlebnisse eines Chilenen (Manuel Jadue), der mit seinen Genossen vor dem Pinochet-Regime in die DDR flüchten konnte und sich dort im Hotel Lunik fand – in ungewohntem Luxus. Die Chilenen mussten auch erst lernen, dass Busse in der DDR nach Fahrplan verkehrten und nicht herangewinkt werden mussten. Der Bericht endet mit dem Satz: »Wir sind heute noch Kommunisten und der DDR sehr dankbar.« Im Hotel Lunik speisten auch Erich Honecker und der österreichische Bundespräsident Rudolf Kirchschläger zu Mittag, das Eisenhüttenkombinat Ost kooperierte mit den Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerken. Dass aus Liaisonen mit österreichischen Ingenieuren nichteheliche Kinder hervorgingen, die als Bastarde beschimpft wurden, zählt zu den weniger schönen Erinnerungen, die in »Hotel Einheit« nicht ausgespart werden.

Im Publikum in Frankfurt waren merkbar viele, die sich an die Hotels heute noch gerne erinnern. Im Hotel Stadt Frankfurt galt es 1984 ein Bankett zu Ehren von Kim Il Sung auszurichten. In der Nachtbar des Hotel Lunik musste auf eine Quote an Ostblockmusik geachtet werden – aber nur, bis sich die obligatorischen Stasi-Mitarbeiter zur Ruhe begaben. In Jeans kam man dort allerdings nicht hinein – außer man hieß Manfred Krug. Wer günstig steht, ergattert vielleicht eine Kostprobe einer legendären Spezialität aus dem Hotel Lunik, der »Kuba-Schnitte«, oder ein Glas Krimsekt. Dass die einstige Völkerfreundschaft mit der Sowjetunion noch nicht vollends begraben ist unter antirussischer Stimmungsmache wurde deutlich, als von den Delegationen aus diversen Sowjetrepubliken die Rede war. Unkomplizierte Gäste seien das gewesen, denen meist ein Standardmenü aus Rinderkraftbrühe, Hackfleischröllchen und Kompott vorgesetzt wurde. Spontaner Zwischenapplaus – und als dann auch noch »Kalinka« angestimmt wurde, war das Publikum nicht mehr zu halten. Am Schluss steht eine nüchterne Bestandsaufnahme über die Hotellerie des heutigen Frankfurt: »Das ist alles nicht mehr doll.« Und ein Hotelrestaurant mit Anspruch gebe es schon gar nicht.

Nächsten Stationen: Salzwedel (17./18.8.), Stendal (20./21.8.), Magdeburg (24.–27.8.), Braunschweig (30.8.–1.9.), Worpswede (4.–7.9.) und Geestenseth (10.–15.9.)

www.das-letzte-kleinod.de

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