Alte und neue Heimat
Von Maximilian SchäfferVoll im Hitzeloch versenkt, deliriert das Kino im August zwischen meuchelmordenden Riesenlesben (»Love Lies Bleeding«) und schleimigen Außerirdischen (»Alien: Romulus«). Solche Reißer im buchstäblichen Sinne passen gut zum flirrenden Horizont bei kühlem Bier. Abseits dieser blutigen Schauplätze versuchen es nun zwei Filme mit sozialer Melodramatik – das Coming-of-Age zweier nicht ganz weißer Jungs – , ganz in unserer irdischen Welt, nun ja, verortet.
»Gagarin« vom Regieduo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh war bereits 2021 in den französischen Kinos zu sehen und hat nun auch deutschen Verleih. Namensgebend für den Film ist der weltberühmte Kosmonaut nur indirekt. Es geht um eine ehemalige Wohnbausiedlung in Ivry-sur-Seine (südwestlich im Speckgürtel von Paris gelegen), die 1963 im Beisein von Juri Gagarin eingeweiht wurde. Große Hoffnungen legte Frankreichs Kommunistische Partei (PCF) einst in solche Projekte. Das frohe und friedliche Zusammensein der Arbeiter in modernen, warmen und geräumigen Wohnungen war aber bereits nach gut zehn Jahren vorüber. Die Ölkrise schlug ein wie der Blitz und beendete »Les Trente Glorieuses« – Frankreichs goldene Wirtschaftszeiten (1945–75). Massenarbeitslosigkeit sorgte für Verelendung, wer irgendwie konnte, floh aus den sich formenden Ghettos der Banlieues in kleinbürgerliche Milieus. Keine Wahl hingegen hatten Migranten. Man pferchte sie zwecks besserer Integration da zusammen, wo alle anderen wegwollten, und gab ihnen Sozialhilfe. 2009 wurde die Cité Gagarine endgültig abgerissen, das gute alte Asbestargument stürzt noch den letzten Kulturpalast. So desolat die Zustände in den einst futuristisch gestalteten Wohnblocks irgendwann auch waren, für viele Menschen waren die orangefarbenen Module dennoch zur Heimat geworden.
In diesem Setting also spielt der Film, sein Hauptprotagonist ist der Teenager Youri (Alséni Bathily), der im Block wohnt und den drohenden Abriss verhindern will. Zusammen mit einigen Freunden repariert er den Aufzug, installiert neue Lampen, dekoriert die gammligen Korridore. Als das zuständige Bauamt kommt, waren alle Bemühungen vergebens. Abgerissen wird die Cité gnadenlos, ihre Bewohner lassen sich gerne evakuieren. Youri, den die Mutter verlassen hat, versteckt sich stur in der Wohnung. Träume werden zu Psychosen, und die Psychosen werden lebensbedrohlich. Ganz bestimmt hat »Gagarin« als Film seine hübschen Momente, besonders die dschungelartige Weltraumhöhle, in der Youri bald haust, hat einen verführerischen Zug ins Phantastische. Ebenso phantastisch ist allerdings der ganze sozialpolitische Ansatz des Films. Fröhlich werden Ethnien und Identitäten aufgezählt, wie es gerade très chic zu sein scheint. Man könnte glatt meinen, die Banlieue wäre ein freundlicher Ort des friedvollen, interkulturellen Miteinanders. Zur weiteren cineastischen Lektüre sei »La haine« (1995) von Mathieu Kassovitz empfohlen, der sozialarbeiterische Kuschelorgien wie »Gagarin« wieder ins rechte Licht rückt.
Der zweite Sommerfilm – »Dìdi« – kommt direkt aus der oberen Mittelschicht der USA, beliebte Brutstätte schicklicher Identitätsnarrative. Regisseur Sean Wangs Eltern wanderten einst aus Taiwan nach Kalifornien aus. Ihr Sprössling also wurde Filmemacher, geschult vom Google Creative Lab und irgendwelchen Förderprogrammen des Sundance-Filmfestivals.
In »Dìdi« erzählt Wang – was sonst? – seine eigene Lebensgeschichte als taiwanisch-US-amerikanischer Teenager. Zu Hause essen sie Teigtaschen und sprechen Taiwanisch, die halbdemente Oma wohnt intergenerationell im Haus, die Mutter will eigentlich Künstlerin werden, wurde allerdings zur Hausfrau degradiert. »Dìdi«, so wie sie den 13jährigen Chris (Izaac Wang) nennen, ist ein Teenager und interessiert sich fürs Skateboarden und Filmen. Er verliebt sich. Er ist betrunken. Er ist traurig. Er ist asiatisch. In den frühen 2000ern kommunizierte man noch am PC mit ICQ oder Yahoo oder AOL oder sonstigen antiken Messengern seine Gefühlsregungen. Auch diese dekorative Weisheit präsentiert Herr Wang neben seiner lahmen Kindheit.
Zur weiteren cineastischen Lektüre sei »Mid90s« (2018) von Jonah Hill empfohlen. Ein Film, der seine notwendigen ethnischen und individuellen Identitätserzählungen selbständig aus den Figuren im Film entwickelt und tatsächlich rührend ist. Ein Film, der sich für mehr interessiert als sich selbst und politische Fähnchen und nicht so unglaublich langweilig ist wie beispielsweise »Dìdi«.
»Gagarin: Einmal schwerelos und zurück«, Regie: Jérémy Trouilh, Fanny Liatard, Frankreich 2020, 98 Min., bereits angelaufen
»Dìdi«, Regie: Sean Wang, USA 2024, 93. Min., bereits angelaufen
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