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Aus: Ausgabe vom 19.08.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Humanismus

Menschliche Institutionen

Krise des Humanismus und neue Humanität: Konrad Lotters Buch über den »realen Humanismus«
Von Reinhard Jellen
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Besucher eines Konzerts im Münchner Olympiapark am Sonnabend

Humanistische Gedanken und Überzeugungen stehen gegenwärtig nicht gerade hoch im Kurs. Die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder einzelne »in Gemeinschaft mit anderen« die eigenen Anlagen »nach allen Seiten hin ausbilden kann«, so wird eingewendet, habe der Realität nicht standgehalten. Sie sei von der geschichtlichen Entwicklung überholt.

Zur Begründung werden dabei vor allem drei Argumente ins Feld geführt. Erstens erfordere die Arbeitsteilung eine zunehmende Spezialisierung und damit eine einseitige Ausbildung der eigenen Fähigkeiten. Wer weiterkommen wolle, brauche keine Bildung, sondern eine solide Ausbildung, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientiert. Zweitens habe durch die Konformität des Konsums, der medialen Information oder der Kommunikation eine Nivellierung auch der Menschen stattgefunden. Die Massengesellschaft habe Massenmenschen hervorgebracht, deren Persönlichkeitsentwicklung außen- und fremdbestimmt sei. Mitunter wird sogar vom »Verschwinden« des Menschen gesprochen, dessen individuelle Konturen sich auflösten »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«. Drittens habe sich die Technik dem Menschen gegenüber verselbständigt und Macht über ihn gewonnen. Durch die Verschmelzung von Info- und Biotechnologie sowie die Entwicklung von künstlicher Intelligenz sei der Mensch zu einem weithin fremdbestimmten und manipulierten Wesen erniedrigt worden. Post- und Transhumanismus haben sich zuletzt die »Überwindung« des Menschen und die Erzeugung eines »Übermenschen« zum Ziel gesetzt.

Eine Stärke der vorliegenden Arbeit Konrad Lotters liegt darin, dass sie diese Argumente nicht nur aufgreift und ernst nimmt, sondern auch in ihrer eigenen Dialektik darstellt. Aus den vermeintlichen Grenzen des Humanismus werden auf diese Weise Übergänge zu neuen, erweiterten Formen des Humanismus. Erst die Teilung der Arbeit nämlich offenbart die vielfältigen Potenzen des Menschen und erzeugt die Möglichkeit, sich in verschiedensten Bereichen zu versuchen und ein reiches Leben zu leben. Erst die technischen Fortschritte haben die Entlastung der Menschen ermöglicht, die von der Arbeit freigestellt die Verwirklichung ihrer Anlagen auch »als Selbstzweck« betreiben können. Und auch die »Masse« muss nicht nur als Verlust, sondern auch als Vorstufe einer (neuen) Humanität begriffen werden, in der die Menschen solidarisch ihre gemeinsamen Interessen durchsetzen können.

Eine andere Stärke dieses Buches liegt in seinen klaren Begriffen und Aussagen. Im Fortschritt des klassischen Humanismus zur Zeit der Renaissance und der Goethe-Zeit zum realen Humanismus, den Marx in Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern und Feuerbach entwickelt, so wird gezeigt, vollzieht sich ein mehrfacher Wechsel der Perspektive. Aus der Kritik an der Religion wird die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht mehr an der idealisierten Antike orientiert sich der reale Humanismus, sondern an den geschichtlichen Möglichkeiten, die sich durch den Grad der Naturbeherrschung und den gesellschaftlichen Reichtum eröffnen. Aus der Bildung einzelner Individuen, einer Elite von Humanisten abseits der »Masse«, entsteht die Forderung nach menschlichen Institutionen, die nicht nur allen Menschen die gleichen Chancen einräumen, sondern auch Frieden mit der Natur geschlossen haben. Was den realen Humanismus zuletzt von den früheren Formen des Humanismus unterscheidet, ist seine praktische Ausrichtung: der »kategorische Imperativ«, alle Verhältnisse zu beseitigen, die die Menschen fremdbestimmen und ihre menschliche Würde verletzen.

Für einige Leserinnen und Leser abschreckend an Lotters Buch könnten die vielen Bezüge auf philosophische, soziologische, ökonomische und psychologische Werke sein, auf die sich die einzelnen Argumentationen stützen. Wer sich jedoch von so einem Ritt durch die Geistesgeschichte nicht einschüchtern lässt und sich darauf einlässt, wird das Buch mit Gewinn studieren.

Konrad Lotter: Realer Humanismus. Eine geschichtliche Betrachtung. Mangroven, Kassel 2024, 270 Seiten, 25 Euro

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. August 2024 um 21:15 Uhr)
    Vorsicht, Logik ist nicht unbedingt menschlich, darum besteht noch Hoffnung! Denn tief in uns, unter all den Schichten aus Anpassung und Gleichförmigkeit, schlummert immer noch der Funken des Humanismus. Er mag derzeit im Winterschlaf sein, doch eines Tages wird er wieder erwachen. Und wer weiß, vielleicht werden wir dann entdecken, dass all diese Argumente doch nur eine Phase waren – eine kleine Umleitung auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der die Humanität doch noch ihren Platz findet. Denn, liebe Freunde, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Und wenn sie doch stirbt, dann sicher nicht leise – sondern mit einem ironischen Lächeln, während wir uns selbst für die Überlegenheit unserer eigenen Vernichtung applaudieren. Ironie beiseite, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die Möglichkeit, dass humanistische Ideale wiederaufleben, bleibt. Und selbst in den dunkelsten Zeiten hat die Menschheit stets einen Weg gefunden, sich neu zu erfinden.

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