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Aus: Ausgabe vom 20.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Sozialismus

Teilnehmende Beobachtung

Dem Kommunisten und Journalisten Lucas Zeise zum 80. Geburtstag
Von Georg Fülberth
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Lust und Risiken des Kapitalverkehrs: Lucas Zeise

Marx schrieb mehrere Jahre lang für die bürgerliche New-York Daily Tribune über europäische Politik. Oft gab er nur den Namen für Artikel her, die in Wirklichkeit von Friedrich Engels waren. Der war Juniorchef, dann Teilhaber einer Garnfabrik in Manchester. Dort wurde der proletarischen Arbeitskraft Mehrwert abgepresst, ganz wie es im ersten Band des ökonomischen Hauptwerks von Marx steht: »Der Produktionsprozess des Kapitals«. Engels war als Manager und Prinzipal eher für Allokation und Kalkulation zuständig, also Teil zwei: »Der Zirkulationsprozeß des Kapitals«. Im dritten Band kam das große Ganze: der »Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion«. Die galt es nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu beseitigen. Marx und Engels waren nämlich im Hauptberuf Kommunisten, Revolutionäre im Journalisten-, Gelehrten- und Businessmanschafspelz.

Das war tiefstes 19. Jahrhundert. Aber auch im 20. und 21. kam und kommt derlei vor.

So bei Lucas Zeise. Bürgerliches Elternhaus, Humanistisches Gymnasium in München, Studium der Philosophie und Ökonomie. 1973 trat er in die DKP ein. Er verdiente seinen Lebensunterhalt im Dienst der deutschen Aluminiumindustrie, des japanischen Wirtschaftsministeriums sowie als Redakteur der Börsenzeitung und der von ihm mitbegründeten Financial Times Deutschland. Völlig getrennt davon gab (und gibt) es die winzige marxistische Gegenwelt, in deren Blättern er sich zuweilen unter Pseudonym (z. B. »Margit Antesberger«) zu Wort meldete.

Später – da hatte er sein bürgerliches Erwerbsleben schon erfolgreich hinter sich gebracht – benutzte er durchgehend seinen Klarnamen. In der jungen Welt hatte er eine Kolumne über »Lust und Risiken des Kapitalverkehrs«. Ein Jahr lang, 2016/2017, war er Chefredakteur der DKP-Zeitung UZ und fand zumindest anfänglich, das sei der Höhepunkt seiner journalistischen Laufbahn. Als 2007 die Bankencrashs einsetzten, erkannte er das als Beginn jener systemischen Krise, die bis heute anhält: Party vorbei. Im Papyrossa-Verlag erschienen seine Bücher über das Finanzkapital und den vertrackten Charakter des Geldes. Bewundernd nannte ihn das Magazin Brand Eins einmal einen »großen Finanzjournalisten« und »Kapitalversteher«.

Das ist aber noch nicht einmal der halbe Mann und in dieser Reduktion letztlich ein Missverständnis. Wirtschaftsexperten (»Analysten«) gibt es wie Sand am Meer. Ihr Geschäft besteht darin, die kapitalistische Realität durch ihre Nachzeichnung zu verdoppeln. Selbst »Das Kapital« lässt sich nach solcher Vorentscheidung als ein Buch lesen, in dem gezeigt wird, wie der Kapitalismus funktioniert.

Das ist kein Job für Lucas Zeise. Sein Lebensthema ist selbst dort, wo er über ihn schreibt, nicht der Kapitalismus, sondern der Sozialismus. Jenen zu kennen, ist die Voraussetzung für den Kampf um diesen. Wenn es um den Sozialismus geht, verlieren Zeises Texte jenen ironischen Ton, der sonst häufig für seinen Journalismus charakteristisch ist. Da wird es bitterernst. Begriffsschlamperei erträgt er nicht. Die entdeckt er u. a. dort, wo die Volksrepublik China nicht nur zutreffend als eine erfreulich effiziente kapitalistische Gesellschaft unter Führung einer tüchtigen kommunistischen Partei bezeichnet, sondern als jetzt schon sozialistisch tituliert wird. Das war sie seiner Meinung nach einst, später könnte sie es allenfalls einmal wieder werden. Übereinstimmend mit Lenin ist Imperialismus für Zeise kein Schimpfwort, sondern – wie bei Marx das Kapital – ein gesellschaftliches Verhältnis. Zu solchen Ergebnissen kommt man, wenn man den Dingen unterhalb des Gekräusels der Tageskurse und -ereignisse auf den Grund schaut.

Marx und Engels fragten, wie man von hier (Kapitalismus) nach dort (Kommunismus) kommt. Sie visierten den künftigen Sozialismus von den Bedingungen des Konkurrenzkapitalismus her an. Zeise sieht Monopolkapitalismus und Imperialismus als Formen einer Produktionsweise, die es praktisch zu überwinden gilt. Keynesianismus und Neoliberalismus sind Varianten. Dass der Wechsel zum Sozialismus theoretisch und praktisch blockiert ist, ist ein Problem, das Lucas Zeise nicht zur Ruhe kommen lässt.

Als teilnehmender Beobachter von Lust und Risiken des Kapitalverkehrs wurde er zum Chronisten zweier Übergänge: vom sozialliberalen Wohlfahrtsstaat zum neuen Marktradikalismus und dann in den gegenwärtigen Engpass. Am 20. August wird er achtzig. Er bleibt unzufrieden.

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  • Leserbrief von Walter Lambrecht aus Rostock (22. August 2024 um 10:59 Uhr)
    Georg Fülberth bringt in seinen Glückwünschen zum 80. Geburtstag von Lucas Zeise beider Lieblingsthese zu China unter, wonach das arme Land der ersten Jahrzehnte sozialistisch gewesen sei, dasjenige heute, das sich u. a. die Erfahrungen von Lenins NÖP zu Nutze macht, die Produktivkräfte entwickelt und das Wohlergehen des Volkes zum Ziel hat, sich auf dem kapitalistischen Weg voranarbeitet. Auf Lenin kann man sich auch berufen, wenn man die Bedeutung der korrekten Einschätzung der internationalen Situation für die Festlegung der Politik im eigenen Land hervorhebt. Angesichts der rasch wachsenden Kriegsgefahr identifizieren wir China als kapitalistisch-imperialistischen Teilnehmer? Beiden ansonsten verdienten Recken lege ich die einschlägigen Schriften von Domenico Losurdo an Herz (die sie sicherlich kennen – sie sind der aktuelle Standard, der zu widerlegen wäre).
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (22. August 2024 um 12:23 Uhr)
      Lenins NÖP war eine notwendige Übergangsphase, die nur wenige Jahre dauerte. Die Reformen in China sind offensichtlich auf Dauer angelegt. Xi Jinping 2012: »Die Politik der Reform und Öffnung ist eine ständige Aufgabe und wird nie enden.« Solidarität mit der VR China gegen die Aggression der Imperialisten ist notwendig. Ob allerdings die Restauration des Kapitalismus und das Füttern von Milliardären ein Weg zum Sozialismus ist, kann durchaus bezweifelt werden. Was den »Experten« Losurdo betrifft: Kein Geringerer als Kurt Gossweiler hat dessen Irrtümer beschrieben: »Genosse Domenico Losurdos ›Flucht aus der Geschichte‹ (2001)«

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