Neunundzwanzig Wochen und zwei Tage
Von Frank Schäferplus 2.
Neunundzwanzig Wochen und zwei Tage.
Jeder Tag zählt.
»Die Kinder, die in der dreißigsten Woche geboren werden, kommen mittlerweile sicher durch«, sagt die Intensivschwester arglos.
Wie sich die Eltern fühlen, deren Kind diese Hürde nicht geschafft hat, darüber macht sie sich keine Gedanken. Wenn sie sich das alles zu Herzen nehmen würde, könnte sie keine Nacht mehr ruhig schlafen.
Wie wir jetzt.
*
Als kleiner Junge durfte ich für meinen Vater ein Lottofeld ausfüllen. Ich kreuzte 1, 2, 3, 4, 5, 6 und die Zusatzzahl 7 an. Mein Vater schüttelte verärgert den Kopf.
»Was machst du denn da? Ist doch klar, dass die Zahlen nicht drankommen.«
*
Es wird ein heißer niedersächsischer Sommer, der Sommer des Jahres 2003. Schon das Osterkaffeetrinken mit der Familie kann man nach draußen verlegen.
In den Krankenhauspark.
Ich besuche Heike sowieso jeden Tag zweimal, morgens und abends. Die Nähe der Klinik zu unserer Wohnung erweist sich als großer Vorteil.
Am Sonntag kommt die Familie dazu, bringt selbstgebackenen Erdbeerkuchen und kannenweise Kaffee mit.
»Draußen nur Kannen.«
Alle lachen, weil sie die Sorge um den kleinen Jungen wenigstens für eine Stunde los sein wollen.
*
Krankenbericht: »Da sich der Allgemeinzustand der Mutter nicht stabilisiert und die fetale Tachykardie persistiert, wird der Entschluss zur Schwangerschaftsbeendigung mittels primärer Sectio caesarea gefasst.«
*
Eine aus dem OP-Bereich eilende Schwester hält kurz inne und schaut mich besorgt an.
»Sie sehen ja ganz bleich aus. Soll ich Ihnen ein Wasser bringen?«
Ich lehne ab und sie muss weiter, verschwindet hinter der nächsten Ecke, wo ich sie mit einer anderen Frau halblaut reden höre.
»Schau mal gelegentlich nach dem jungen Vater vorm OP, der kippt uns sonst noch um.«
Ich lehne mich an die Wand, weiß nicht, was ich denken soll, sehe mir selbst zu, wie ich hier stehe und überlege, ob ich mir nicht mehr Sorgen machen müsste.
Nach einer Weile schaut eine andere Schwester um die Ecke.
»Alles klar?«
»Nö, wieso?« will ich erst antworten, aber ich lächle nur und winke nickend.
*
Ein Freund hat mir mal gebeichtet, er sei nicht normal.
Während der Beerdigung seiner lieben Oma, die ihn aufgezogen hat, weil die Eltern sich dazu nicht in der Lage sahen, muss er die ganze Zeit das Lachen unterdrücken.
Grauenvoll.
Der Dackelblick des trauerpredigenden Dorfpfarrers kitzelt ihn so dermaßen, dass er die Hände vors Gesicht nimmt, und als seine Schulter verdächtig zu zucken beginnen, klopft ihm sein Bruder verständnisvoll auf den Hinterkopf.
Dem stehen Tränen in den Augen, meinem Freund auch, aber vor Lachen.
Ich bin froh, dass wenigstens mein Körper mitspielt. Immerhin erbleiche ich standesgemäß.
*
Die Hebamme kommt hinausgehuscht, bereits mit Mundschutz bewehrt. Man gibt mir einen grünen OP-Kittel, ich wasche mir die Hände, soll mich sputen, aber in meiner Aufregung bin ich vermutlich langsamer, als wenn ich mir Zeit lassen könnte.
Der Anästhesist winkt mich zu sich. Wir stehen hinter einem grünen Sichtschutz aus Tuch, der Heike von den Schultern abwärts verdeckt. Sie schläft, schaut entspannt aus, lächelt sogar ein wenig.
*
Die Hebamme eilt mit einem in Tüchern eingeschlagenen schreienden Bündel in den Nebenraum, wo schon Kinderärzte warten.
Der Anästhesist nickt aufmunternd.
Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.
Die Hebamme steht in der Tür und ruft.
»Wollen Sie sich Ihren Sohn nicht anschauen?«
Ich drehe mich noch einmal um zu Heike, dann gehe ich schnell nach drüben.
*
Ich darf nur einen kurzen Moment bleiben, mir meinen Sohn nur kurz ansehen, weil die Erstversorgung doch problematischer ist, als man dachte.
Die Hebamme schiebt mich mit sanfter Gewalt vor die Tür.
»Lassen Sie den Arzt mal machen. Sie sehen Ihr Kind ja gleich draußen, wenn die Arbeit getan ist.«
Es ist Arbeit, das wird mir jetzt klar.
*
Man hatte mit Komplikationen gerechnet.
Wie denn auch nicht bei einem Kind, das nach kaum 30 Wochen zur Welt kommt?
Weil das Marienstift keine Frühchenstation besitzt, hat man Ärzte der Neonatologie des Krankenhauses in der Holwedestraße eingeschaltet, sie haben einen fahrbaren Inkubator dabei. Dort liegt er drin, als ich meinen Sohn wiedersehe, draußen auf dem Flur, künstlich beatmet, schlafend, vielleicht sediert.
Wie ich hierher gekommen bin, weiß ich nicht.
Es fühlt sich an wie nach einem Unfall.
*
Ich komme erst wieder zu mir, als ich Heike sehe. Sie liegt nur mit einem Laken zugedeckt auf dem Gang und friert. Sie wird langsam wach, kann die Augen noch nicht öffnen, ihr ganzer Körper im Tremor. Keine Ahnung, ob das Folgen der abklingenden Narkose sind oder ob ihr tatsächlich kalt ist unter dieser dünnen Decke. Ich versuche sie warm zu rubbeln und rede zärtlich auf sie sein, aber sie ist noch weit weg. Sie zittert, als hätte sie jetzt schon Angst vor dem, was sie im Wachen erwartet.
*
Jetzt wird der Inkubator aus dem Operationssaal rausgefahren.
Der Notfallmediziner ruft mich zu sich.
»Sind Sie der Vater?«
Er fragt nach seinem Namen.
»Oscar«, sage ich mit brüchiger Stimme.
Er fragt sofort: »Mit c oder mit k?«
Ich werfe noch einen langen Blick in das Aquarium.
»Verabschieden Sie sich«, lächelt er, »wir müssen jetzt los!«
Und dann schieben sie ihn in den Fahrstuhl.
Zur Holwedestraße.
*
Das Städtische Klinikum in der Holwedestraße.
Man empfängt mich in der Elternschleuse. Mundschutz, Kittel, Desinfektion der Hände.
Ein Arzt, es ist ein anderer diesmal, bringt mich zu ihm und erklärt mir die Technik. Ich sehe den winzigen Jungen, und mir schießen sofort Tränen in die Augen.
Der Arzt bittet mich in sein Büro, um mich auf den medizinischen Stand zu bringen. Er wird weiterhin künstlich beatmet, sie versuchen die Sauerstoffzufuhr sukzessive zu reduzieren, um ihn möglichst schnell vom Beatmungsgerät zu bekommen, längere Beatmungszeiten haben negative Auswirkungen auf den kleinen Organismus, schädigen vor allem die Augen, deshalb sind Frühgeborene so oft Brillenträger.
Er sei noch nicht über den Berg, aber mache zunächst einen guten Eindruck. Man habe allen Grund optimistisch zu sein, spricht der Arzt mir Mut zu.
Offenbar macht er das öfter, vielleicht ist der Spezialist hier für die ersten Elterngespräche. Er ist sehr einfühlsam, benennt meine Ängste bereits, bevor ich sie selbst formulieren kann, und weiß um das einschüchternde Potential der Intensivpflege. Ich möge mich davon nicht erschrecken lassen, man gewöhne sich schnell daran.
»In ein paar Tagen gehen Sie ganz selbstverständlich damit um.«
»Darf ich ihn mal streicheln?«
»Na klar, Sie können gleich noch einmal zu ihm und die Hand reinstrecken.«
Das gibt mir den Rest, ich fange an zu weinen.
Er schaut taktvoll aus dem Fenster und wartet, bis ich mich beruhige, jetzt führt er mich noch einmal zum Inkubator, hinten links.
Eine Schwester öffnet eine Klappe und ich berühre ihn zum ersten Mal. Mein Zeigefinger streicht über seine Handinnenfläche und er greift kräftig zu.
*
»Babys mögen Enge, das erinnert sie an den Mutterleib«, erklärt mir eine Schwester. »Wenn Sie mit der Hand sanft seinen Kopf halten und leise mit ihm sprechen, gibt ihm das Geborgenheit.«
Ich lege die Hand hinter sein Köpfchen und erzähle ihm in einer zärtlichen Suada, die ich in den nächsten Tagen perfektioniere, alles, was mir gerade einfällt.
Mein kleiner Sohn, mein kleiner süßer Sohn, mein lieber kleiner Oscar.
*
Fast alle Frühgeborenen liegen in einem Inkubator von der Größe eines komfortablen Aquariums, an jeder Seite befinden sich zwei Bullaugen, die sich mit einem leichtgängigen, fast lautlosen Druckmechanismus öffnen lassen.
Die ganze Seitenwand lässt sich ebenfalls herunterklappen, was aber nur selten geschieht. Eigentlich nur dann, wenn etwas passiert, wenn zum Beispiel der Säugling zum »Kuscheln« beziehungsweise »Bonding« oder auch »Kangarooing« auf die Brust der Mutter oder des Vaters gelegt wird.
Oder wenn etwas anderes passiert.
Die starren Blicke der Eltern im Wartezimmer, dessen Tür meist offen steht, und die man deshalb sieht, wenn man sich die Hände wäscht, desinfiziert und sich den langen blauen Besucherkittel überzieht, zeigen einem einmal zu oft, dass durchaus was anderes passieren kann.
*
Am Nachmittag treffen wir uns mit den Eltern, um gemeinsam in die Holwedestraße zu fahren. Es gibt für die Angehörigen die Möglichkeit, von der rückwärtigen Seite der Intensivstation durchs Fenster zu schauen. Wir haben Glück, dass Oscars Inkubator direkt davor steht.
Uns ist beiden etwas mulmig, Wochen später erst reden wir darüber und überraschen uns damit, dass wir damals dasselbe gefühlt haben. Wir fürchten die Reaktion der Familie, das verdoppelt unsere Ängste. Denn jetzt sind wir auch noch in der Rolle der Vermittler, die ihnen erklären sollen, was hier passiert, und dass es alles ganz in Ordnung ist, wie es hier passiert. Wir färben für sie die Realität schön, wir machen ihnen Mut und achten ängstlich auf jede skeptische Reaktion, die anzeigen könnte, dass wir etwas übersehen haben.
Ein mitleidiges »Ogottogott« meiner Mutter versetzt uns einen Stich. Das trage ich ihr nach. Wie ich mir jeden falschen Kommentar merke und ihr nachtrage. Jahre später erzählt sie mir am Telefon, dass sie damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen habe durch das Fenster, nicht daran geglaubt habe, »dass er nach Hause kommt«.
Ich werde wütend und muss mich beherrschen, um sie nicht anzuschreien, als wäre ich noch immer in dieser Vermittlerrolle, als ginge es immer noch darum, ihr und damit auch mir zu beweisen, dass alles in Ordnung ist.
Man habe ihr diese Zweifel damals durchaus angemerkt, bestätige ich, um Fassung bemüht.
»Das war für uns damals eine ziemliche Belastung. Wir sind im nachhinein beide zu dem Entschluss gekommen, dass es besser für uns gewesen wäre, wenn wir euch Oscar nicht gezeigt hätten.«
Daraufhin ist sie eingeschnappt. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich nichts anderes gewollt.
*
Kleine Klebesensoren mit kindgerechten Motiven, die jedoch allein die Eltern beruhigen sollen, registrieren die Herzfrequenz, die Sauerstoffsättigung des Blutes, die Respiration. Die Messergebnisse erscheinen auf einem Bildschirm.
Atmet das Kind zu flach, sackt der Puls in der Keller, ist die O2-Versorgung des kleinen Körpers nicht mehr ausreichend – alles hängt hier mit allem zusammen. Dann blinkt eine Diode, und ein alternierender Warnton erklingt, der mir aus 60er-Jahre-Science-Fiction-Filmen bekannt vorkommt.
Unterschreiten die Vitalfunktionen des Kindes noch einen weiteren Grenzwert, ertönt ein anderes Signal, dem man die gesteigerte Dringlichkeit aufgrund der höheren Frequenz und der kürzeren Pausen deutlich anhört.
Spätestens nach zwei, drei Tagen hat man den Bildschirm genauso oft im Blick wie das eigene Kind. Krisen sieht man langsam sich aufbauen, sich nähern, und ich höre das Signal schon lange, bevor es akustische Wirklichkeit wird. Man wundert sich manchmal sogar, warum es nicht erfolgt, obwohl man sich doch genau daran erinnert, dass bei diesem Wert gestern oder heute vormittag das Gerät anschlug.
Das gehört zu den kleinen Mysterien der Gerätemedizin, zumindest so lange, bis ich mitbekomme, wie eine Krankenschwester die Warnungsparameter neujustiert. Offenbar werden sie dem Zustand des Kindes angepasst.
Informiert wird man darüber nicht, denn man soll sich nicht um die Geräte, sondern um sein Kind kümmern. Das nehme ich mir dann auch immer wieder vor, aber es gelingt nie ganz.
*
In den ersten Tagen der Schwangerschaft kauft Heike ein Winnie-the-Pooh-Kuscheltier, in dem sich auch eine Spieluhr zum Aufziehen verbirgt. Irgendwo hat sie gelesen, dass man dem Kind bereits in utero eine Melodie vorspielen soll. Hört das Neugeborene diese Melodie, wird das Gefühl der Geborgenheit im Mutterleib über den akustischen Reiz aufgerufen. Das Kind fühlt sich weniger fremd in den ersten Stunden und Tagen seines Lebens. Winnie the Pooh hat eine Strippe zwischen den Beinen. Wenn man daran zieht, ertönt das »Wiegenlied« von Johannes Brahms, aber glücklicherweise nur in einer akustischen Version.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich die erste Strophe verstört hatte. »Guten Abend, gut’ Nacht, / mit Rosen bedacht, / mit Näglein besteckt, / schlupf unter die Deck’: / Morgen früh, wenn Gott will, / wirst du wieder geweckt.«
Dass es sich um eine fromme, spätmittelalterliche Demutsgeste handelt, so alt ist der Text schon, versteht ein Kind nicht. Es nimmt alles für bare Münze und glaubt, Gott könne aus irgendeinem Grund vielleicht nicht wollen, dass es wieder erwacht.
Eben daran denke ich, als Heike die Spieluhr mitnimmt auf die Frühchenstation, um sie Oscar in den Inkubator zu legen. Für einen Moment will ich sie davon abhalten, weil ich mein kindliches Missverständnis als böses Omen deute. Aber wenn man mit solchen Abergläubeleien erst mal anfängt, wo hört man dann auf?
Heikes Fürsorge siegt sowieso, also sage ich ihr gar nichts von meinen Bedenken. Wenn die Melodie Oscar ein wenig Sicherheit gibt, hat sie ihre Aufgabe erfüllt.
Und so sitzt nun Winnie the Pooh an seinem Kopfende und wacht über den kleinen Jungen. Nach jeder Mahlzeit, zunächst noch über eine Magensonde, und nach jeder Pflegeeinheit der Schwester wird die Spieluhr aufgezogen und es erklingt Brahms aus Winnies Bauch. Noch ist er größer als Oscar.
Frank Schäfer ist Schriftsteller, Musik- und Literaturkritiker. Er lebt in Braunschweig. An dieser Stelle erschien von ihm in der Ausgabe vom 28./29. Oktober 2023 »Garage Days Revisited« über Phrenesie, Fußball und die »Seven Nation Army« der White Stripes
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