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Aus: Ausgabe vom 21.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Politische Theorie

Die Zurichtung des Menschen

Meinhard Creydt untersucht Werk und Wirkung von Michel Foucault
Von Volker Potrykus
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Großer Freund kleiner Werkzeugkisten: Michel Foucault

In sicherem zeitlichen Abstand vor dem 100. Geburtstag des französischen Philosophen Michel Foucault 2026 legt der Soziologe und Psychologe Meinhard Creydt eine »Analyse und Kritik einiger seiner zentralen Lehren«, so der Untertitel des Buches, vor. Er beschränkt sich auf die Ideen Foucaults zu Disziplin, Macht, Subjekt, Wahrheit und Gouvernementalität. Das Buch ist keine »kritische Würdigung«, sondern eine Würdigung durch gründliche Kritik. Diese umfasst sowohl das Werk, als auch dessen politische Wirkungen. Einen Teil dieser Wirkungen bezeichnet Creydt provokant als »Foucault-Ismus«.

Mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel »Überwachen und Strafen« (1975) und schon 14 Jahre vorher in »Wahnsinn und Gesellschaft« fokussierte Foucault auf die Formierung der modernen, für den Kapitalismus geeigneten Menschen. Die Disziplinierung der vormodernen Menschen wird von ihm als über Gefängnisse, Schulen, Kliniken und Militär nach dem Vorbild der Selbstdisziplinierung von Mönchen geschaffene Voraussetzung für den Kapitalismus dargestellt. Creydt setzt dem eine Dialektik kapitalistischer Entwicklung entgegen, in der sich die Selbstständigkeit der Arbeitenden und ihre Unterordnung unter das Produktionssystem in einem beständigen Widerspruch bewegen. Er verteidigt mit Marx den »Prozess der Zivilisation« (Norbert Elias) und die durch ihn geschaffenen positiven Potentiale gegen Foucaults Idealisierung vormoderner »Freiheit« und »Wildheit«. Weiterhin weist er nach, dass Foucaults Geschichtsschreibung seiner Begriffsbildung folgt und einer Prüfung oft nicht standhält.

Die Darstellung der »Gouvernementalität«, einem Begriff für moderne Regierungsform, folgt diesem Muster. Creydt: »Die Begrenzung des Arbeitstages sowie Vorgaben für Sicherheit am Arbeitsplatz mussten (…) erst mühsam von der Arbeiterbewegung erkämpft werden. Diese für das 19. Jahrhundert zentrale Auseinandersetzung spielt in Foucaults ausführlicher Darstellung der Gouvernementalität bezeichnenderweise keine Rolle« (S. 161). Foucault selbst kokettiert an anderer Stelle: »Ich bin kein Historiker. Und ich bin kein Romancier. Aber ich schreibe so etwas wie historische Romane« (zitiert auf S. 283).

In seiner Begriffslehre setzt Foucault die »Macht« als nicht weiter zu erklärendes Zentrum: aus den Wirkungen der »Macht« heraus soll Gesellschaft und damit Geschichte verstanden werden. Creydt resümiert: »Der gleiche Inhalt (hier: Macht) wird sowohl über die Individuen als auch über die Gesellschaft ausgesagt. Die Begründung fällt zirkulär aus (Henne und Ei). (…) Eine analoge Vorgehensweise würde die Konkurrenz in der kapitalistischen Ökonomie aus dem Verhalten der Konkurrenten erklären.« Bei Foucault findet sich dies oft angemessen blumig formuliert: »Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall« (S. 68). Ein Schelm, wer dabei an Luke Skywalker, Meister Yoda und Darth Vader denkt. Im Ernst: Die Frage nach der Entstehung von Machtbeziehungen wird durch ein suggestives Kreisen um »Macht« als Substanz oder Prinzip von Gesellschaft und Geschichte blockiert. Letztere sind dann nicht mehr von Menschen gemacht, wenn auch »nicht aus freien Stücken« (Marx), sondern Funktion einer Machtmaschine, die zerstört werden soll: »Die ›Gesamtgesellschaft‹ ist dasjenige, dem nur insoweit Rechnung zu tragen ist, als es zerstört werden soll. Es ist zu hoffen, dass es nichts mehr geben wird, was der Gesamtgesellschaft gleicht« (Foucault 1976, zitiert auf S. 131).

Diese Idee von Revolution als produktiver Zerstörung hat Foucault im Iran 1979 konkretisiert gefunden, paradoxerweise in der Form einer in seinem gesamten Werk abgelehnten Vorstellung von Ganzheit: »Zu den charakteristischen Merkmalen dieses revolutionären Ereignisses gehört auch die Tatsache, dass es einen absoluten gemeinschaftlichen Willen aufscheinen lässt (…)« (S. 237).

Meinhard Creydts Auseinandersetzung mit Foucaults abstrakt negativer Gesellschaftsanalyse erfordert eine Darstellung seiner eigenen Gedanken zu Funktionsweise und Überwindung des Kapitalismus – vielleicht für manche Leser stellenweise etwas zu sachlich ausführlich. Man sollte diese Abschnitte als praktische Kritik an der Macht (sic!) Foucaults oft suggestiver, andeutender Sprache genießen.

Inwieweit Foucaults quasi anarchistische Beschwörung des abstrakt freien Individuums, das gleichzeitig subjektlos revolutionieren sollte, am Ende neoliberales Denken und Fühlen mit ermöglicht hat – das kann Creydt nicht abschließend beantworten. Statt dessen ein Resümee ohne falschen Respekt: »Foucault vermischt gern Darstellungen gesellschaftlicher Phänomene und dürftigste philosophische Abstraktionen (…). (Er) bedient eine Bildung, die zugleich vielerlei weiß und durcheinanderbringt« (S. 284). »Der Foucault-Ismus« ist im Sinne von Foucaults Bewerbung seiner eigenen Bücher als »kleine Werkzeugkisten« Ermutigung und Hilfsmittel zur unbeeindruckten Lektüre.

Abschließend zur Rolle Foucaults als Symbolfigur für eine zunächst im guten Sinne »Neue Linke« der 1960er/70er Jahre: »Der damalige Mainstream traditionslinker Borniertheit, der von Haupt- und Nebenwiderspruch schwadronierte, bis sich der Ausbruch so lange unter dem Deckel gehaltener autonomer Kämpfe an diversen Fronten nicht mehr verhindern ließ, musste sich an die eigene Nase fassen. Foucaults Schwenk zur individualistischen Absage an die Vergesellschaftung wurde nicht zuletzt deswegen keineswegs als bloßes Ausweichmanöver, sondern weithin als Befreiungsschlag interpretiert«, heißt es treffend in einer Rezension des Bandes auf schattenblick.de vom Juni 2024.

Meinhard Creydt: Der Foucault-Ismus. Analyse und Kritik einiger seiner zentralen Lehren, Mangroven-Verlag, Kassel 2024, 302 Seiten, 26 Euro

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