Der Krieg der Stiere
Von Jürgen EnkemannDie irische Literaturwissenschaftlerin Jenny Farrell schlägt in ihrem Buch »Widerstand und Befreiung. Essays über irische Literatur« einen großen Bogen: Der erste Essay über »Der Rinderraub« (Táin Bó Cuailnge) handelt vom ältesten Dokument altirischer Literatur, das erhalten geblieben ist. Es stammt aus der Epoche der eisenzeitlichen Kelten, die in Irland bis ins 5. Jahrhundert anhielt und dann ins christliche Mittelalter überging. Am Ende ihres Buches werden literarische Werke behandelt, die erst in den vergangenen Jahren erschienen sind, so etwa Paul Lynchs Roman »Prophet Song« von 2023.
Im »Rinderraub« wird uns die Handlung des teils in Versen und teils in Prosa gehaltenen Epos nahegebracht: In einem Kopfkissengespräch zweier herrschaftlicher Eheleute geht es um das Eigentum an einem Stier und dessen besondere Qualitäten. Damit die Herden von König Ailill, der den prächtigen Ochsen Findbennach besitzt, und Königin Medb vergleichbar sind, soll der Stier Donn Cuailgne des Nachbarn König Conchobor gewonnen werden. Man sucht Kompromisse, doch dann geraten die Dinge aus dem Ruder – Blutvergießen und Krieg sind die Folge.
Der nächste Text behandelt dann schon Jonathan Swifts Werke, führt also ins frühe 18. Jahrhundert. Es wird evident, warum die Verfasserin ihrem Buch den Titel »Widerstand und Befreiung« gegeben hat. Swift setzte sich vehement für die Eigenständigkeit Irlands ein. Neben dem berühmten satirischen Werk »Gullivers Reisen« wird auch »Ein bescheidener Vorschlag« in den Blick gerückt. Mit Swifts Aufforderung zum Boykott englischer Industrieerzeugnisse deutet sich neben der antikolonialen eine antikapitalistische Tendenz an, der die Marxistin Farrell im Verlauf des Buches nachgeht.
Im Gedicht »Totenklage einer Frau« beschreibt eine Frau den Hergang der Ermordung ihres Mannes auf Anweisung eines britischen Beamten. Farrell kennt viele solcher Werke der irischen Volkskultur, deren Traditionen in ländlichen Gegenden bis in die keltische Epoche zurückreichen, in den Städten der Moderne dann maßgeblich durch die Industriearbeiterschaft geprägt wurden. Die in den folgenden Essays behandelten Texte aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die teils in irischer Sprache verfasst sind, verdeutlichen die revolutionäre Atmosphäre jener Zeit – man denke an die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, die Französische Revolution 1789 und den revolutionären Aufstand in Irland von 1798.
Auch die Frauenemanzipation wird zum Thema, und dies, wie an dem um 1780 verfassten satirischen Gedicht »Das Mitternachtsgericht« von Brian Merriman gezeigt wird, mit besonderen Bezügen zur irischen Vergangenheit. Juristischer Hintergrund sind die altirischen »Brehon Laws«, die Frauen mehr Unabhängigkeit und Eigentumsrechte zugestanden als die Rechtsregeln anderer europäischer Gesellschaften.
In den Essays zu berühmten Autoren der literarischen Moderne wie George Bernard Shaw, James Joyce, William Butler Yeats und Samuel Beckett führt Farrell kompakt in die vielschichtigen Werke ein, legt aber auch hier ein Augenmerk auf die Aspekte Widerstand und Befreiung. Im Falle von Shaw hebt sie besonders dessen Parteinahme für Frauen aus der Arbeiterklasse hervor. Auch bei James Joyce streicht sie sozialkritische Aspekten heraus, so dass im »Ulysses« die Gesellschaft Dublins als hoffnungslose und ausgebeutete gezeichnet wird. Kritisch wird indessen angemerkt, dass der Roman durch die Abwesenheit von Heldentum und seine Ansiedlung im Kleinbürgertum die sozialistische Bewegung jener Zeit unbeachtet lässt. Eine besondere Rolle spielen emanzipative Bewegungen dann natürlich im Essay über »Anthologien irischer Arbeiterliteratur«.
Jenny Farrell gelingt es in ihrem Buch eindrücklich, die besonderen Wege der irischen Literatur nachzuzeichnen und dabei, ohne ihre Widersprüche und spezifische Züge auszuklammern, das Nachklingen keltischer Traditionen und den tiefverwurzelten Widerstand gegen Fremdherrschaft und Ausbeutung aufzuzeigen.
Jenny Farrell: Widerstand und Befreiung. Essays über irische Literatur. Neue-Impulse-Verlag, Essen 2024, 236 Seiten, 24,80 Euro
Jenny Farrell stellt ihr Buch bei den UZ-Friedenstagen vor: 23. August 2024, 19 Uhr, ND-Haus, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin
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