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Aus: Ausgabe vom 20.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Im Spukhaus gefangen

»Dieses Haus ist keine Zuflucht«: Layla Martínez’ Romandebüt »Heiligenbilder und Heuschrecken«
Von Angelo Algieri
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Zeigt auf, wie der Horror von Generation zu Generation weitergegeben wird: Layla Martínez

»Irgendetwas mussten sie tun und darum haben sie mich festgenommen«, sagt das namenlose 30jährige Dienstmädchen. Sie wird in Untersuchungshaft gebracht, weil sie im Verdacht steht, den jüngsten Sohn der Jarabos entführt oder ermordet zu haben. Sie war für ihn verantwortlich – und nun ist er weg. Allerdings sind nach Tagen und Wochen noch immer keine Lösegeldforderungen eingegangen. Trotzdem wird das Dienstmädchen in Haft genommen. Nach drei Monaten wird sie mangels Beweisen entlassen. Das Misstrauen im Bergdorf nahe Cuenca, gelegen zwischen Madrid und Valencia, dem Dienstmädchen und ihrer Großmutter gegenüber aber bleibt. Die beiden wohnen gemeinsam in einem Haus, in dem es angeblich spukt. In den Visionen der Großmutter erscheinen Heilige und Engel wie Heuschrecken. Jahrelang sind die beiden im Dorf die Anlaufstelle für Geisteranbetung und Unglücksversicherung gewesen. Da­rum glaubt man, dass sie etwas mit dem Verschwinden des Jungen zu tun haben könnten. Doch welches Motiv hätten sie gehabt?

Die 1987 in Madrid geborene und aus Cuenca stammende Autorin ­Layla Martínez hat mit »Heiligenbilder und Heuschrecken« einen provokanten und verstörenden Erstlingsroman vorgelegt. Die Story wird von den beiden Hauptprotagonistinnen – dem Dienstmädchen und ihrer Großmutter – abwechselnd in zehn Kapiteln erzählt. Das Verschwinden des Kindes bildet die Rahmenhandlung, doch schildern beide auch die Geschichte der Familie, die mit den Eltern der Großmutter noch vor der Franco-Zeit beginnt.

Die Großmutter erzählt die entsetzliche Geschichte, wie ihr Vater vor dem Kennenlernen der Mutter den Zuhälter spielt, wenn eine Frau ihm genug vertraut. Die Mutter der Großmutter hingegen ist nach der Hochzeit »nur« eine Gefangene im Haus der Familie, das abseits des Dorfes gelegen ist. An diesem Ort werden Bürgerkriegsopfer und Kinderleichen verscharrt. Der Ursprung des Spuks.

Diese Geschichte der mittellosen Familie verschränkt sich mit der der wohlhabenden Jarabos. Familienmitglieder jeder Generation haben mit den Jarabos zu tun gehabt. Die Großmutter hat für sie gearbeitet, ihre Tochter bzw. die Mutter des Dienstmädchens hatte ein Verhältnis mit einem der Jarabos, der dann selbstverständlich eine andere Frau geheiratet hat.

Martínez zeigt genau auf, wie Klassenunterschiede über Generationen funktionieren. Wie Armut und Reichtum jeweils vererbt werden. Es gibt zahlreiche Studien, die darauf verweisen, etwa eine Untersuchung von 2016, die belegt, dass in Florenz die reichsten Familien seit 600 Jahren dieselben geblieben sind. Martínez beschreibt, wie sich die Klassenunterschiede durch Gesten, Verhaltensweisen und vor allem durch Sprache manifestieren. Ein sozialer Aufstieg ist für die Mutter des Dienstmädchens unmöglich. Wer unten ist, wird in die Schranken verwiesen.

Das andere große Thema des Buches ist Frauenfeindlichkeit. Es ist erschreckend, wie Frauen in dem Dorf unabhängig von ihrer Herkunftsschicht behandelt werden. Sie bekommen keinen Respekt, werden misshandelt, vergewaltigt. Die studierte Sexualwissenschaftlerin Martínez zeigt, wie Misogynie intergenerational bis in unsere heutige Zeit weitergegeben wird. Doch die Großmutter und die Enkelin wissen sich zu helfen. »Die Wut durchzuckte ihre Venen wie Fieber.«

Layla Martínez: Heiligenbilder und Heuschrecken. Aus dem Spanischen von Christiane Quandt. Eichborn-Verlag, Köln 2024, 160 Seiten, 22 Euro

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