Altbekanntes Muster
Von Volker HermsdorfDie Auseinandersetzungen um Venezuela sind typisch für Reaktionen der lateinamerikanischen Eliten und der US-Regierung, wenn ihnen nicht genehme Kandidaten bei Wahlen vorne liegen. Während progressive Politiker auch Niederlagen anerkennen, wie zuletzt 2023 in Argentinien und Ecuador, bezeichnete die extreme Rechte einen Erfolg ihres Kontrahenten regelmäßig als Betrug und versuchte, den Amtsantritt des Gewinners mit gewalttätigen Aktionen ihrer Anhänger nachträglich noch zu verhindern. Oft mit Unterstützung der USA und deren Verbündeter, die in Venezuela vor fünf Jahren mit Juan Guaidó sogar einen selbsternannten Präsidenten anerkannten. Im aktuellen Konflikt wäre eine Anerkennung des – nach offizieller Darstellung – unterlegenen Kandidaten Edmundo González für die derzeitige US-Regierung im Hinblick auf die eigenen Präsidentschaftswahlen am 5. November jedoch mit Risiken verbunden.
Schon seit einigen Jahren häufen sich auf dem amerikanischen Kontinent wieder die Umsturzversuche gegen linke Regierungen. Die Parallelen der nach einem ähnlichen Muster verlaufenden Aktionen sind verblüffend. Zentrale Elemente sind der Vorwurf des Wahlbetrugs, Verschwörungserzählungen, Manipulationen durch konservative Medien und gewalttätige Proteste. Beispiele dafür sind die Präsidentschaftswahlen in Venezuela (2018 und 2024), Bolivien (2019), den USA (2020) und Brasilien (2022). Als Venezuelas Präsident Nicolás Maduro 2018 mit 67,9 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt wurde, erklärte die Opposition die von ihr boykottierte Wahl für manipuliert. Die von Donald Trump geführte US-Regierung hatte sie bereits im Vorfeld als »undemokratisch« bezeichnet und erkannte den bis dahin unbekannten Oppositionspolitiker Guaidó als Staatsoberhaupt an. Knapp 60 der 193 UN-Mitgliedsländer folgten. Venezuelas Rechte organisierte Straßenschlachten, um Maduro zu stürzen, blieb allerdings erfolglos.
Anders in Bolivien nach der Wiederwahl des ersten indigenen Präsidenten Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus. Gestützt auf Betrugsvorwürfe der rechtsgerichteten Opposition und der von Washington dominierten Organisation Amerikanischer Staaten putschte das Militär. Morales floh nach Mexiko und Argentinien ins Exil. Als auch die New York Times acht Monate später feststellte, dass die Betrugsvorwürfe nicht haltbar seien, war das rechte Regime in Bolivien lange installiert.
In den USA erkannte Trump im Jahr 2020 seine Niederlage nicht an, konservative Medien, rechte Influencer und Aktivisten in sozialen Netzwerken unterstützten seine Kampagne gegen den angeblichen Wahlbetrug. Am 6. Januar 2021 stürmten Trumps Anhänger das Kapitol, als der Kongress den Sieg Joseph Bidens bestätigen sollte. Ähnlich ging Brasiliens faschistischer Expräsident Jair Bolsonaro vor. Nachdem er Ende 2022 abgewählt worden war, warf er dem Gewinner Luiz Inácio Lula da Silva Betrug vor, forderte das Militär zum Putsch auf und inszenierte gewalttätige Proteste. Am 8. Januar 2023 schlug ein aufgewiegelter Mob Türen und Fenster des Kongresses ein, besetzte den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof.
In Venezuela wiederholen sich die Szenarien. Zu den ersten Ländern, die González offiziell als Präsident anerkannten, gehören Argentinien, Ecuador und Peru. Deren Staatsoberhäupter, der neoliberale Javier Milei, der Unternehmer Daniel Noboa und die Putschistin Dina Boluarte, gehören nicht gerade zu Garanten demokratischer Verhältnisse. Das gilt auch für den US-Milliardär und X-Eigentümer Elon Musk, der in Venezuela die eigentliche Hauptfigur der Rechten, María Corina Machado, unterstützt und sich in den USA für die Wahl von Trump stark macht. Die Biden-Regierung, die Demokratische Partei und die an einem Wahlsieg von Kamala Harris interessierten EU-Mitgliedsländer sind in einer Zwickmühle. Einerseits wollen sie Maduro loswerden und paktieren mit Machado und ihrem Strohmann González. Andererseits könnte die blinde Übernahme der Betrugsvorwürfe ohne hieb- und stichfeste Beweise oder gar eine Anerkennung von González als »Guaidó 2.0« zum Bumerang werden.
Mit ähnlichen Argumenten würde Trump dann möglicherweise – im Falle einer Niederlage – die Wahl von Harris anfechten. Deutliche Anzeichen dafür gibt es bereits. In der TV-Debatte mit Biden drohte er Ende Juni an, nur das Ergebnis einer »fairen, legalen und guten Wahl« zu akzeptieren. In seinem Onlinenetzwerk Truth Social hatte er schon Ende 2022 geschrieben, dass »ein massiver Betrug … die Aufhebung aller Regeln, Vorschriften und Artikel, sogar derjenigen, die in der Verfassung stehen«, rechtfertige.
Hintergrund: Schlechtes Vorbild
Der Oberste Gerichtshof in Venezuela hat erklärt, sämtliche Unterlagen der Präsidentschaftswahlen vom 28. Juli zu prüfen. Anfang August meldete ein UN-Expertengremium Kritik am Wahlverfahren an. Dass nach wie vor detaillierte Ergebnisse der Wahl fehlen, sei ein »beispielloser Vorgang«, so die zwei Wochen nach der Abstimmung geäußerten Vorwürfe. So legitim Kritik daran ist, dass der Nationale Wahlrat (CNE) mit Verweis auf mutmaßliche Hackerangriffe bislang weder ein Endergebnis bekanntgegeben, noch die Resultate aus den einzelnen Wahllokalen veröffentlicht hat, ein »beispielloser Vorgang« ist das nicht.
Ähnliches und sogar noch Extremeres ereignete sich etwa bei der letzten US-Präsidentschaftswahl am 3. November 2020. Die dortige Bundeswahlbehörde brauchte 86 Tage, bis sie am 28. Januar 2021 deren offizielles Endergebnis veröffentlichte. Bis dahin hatte der unterlegene republikanische Kandidat Donald Trump Betrugsvorwürfe erhoben. Seine Anhänger stürmten am 6. Januar das Kapitol in Washington. Doch ungeachtet der Proteste wurde Joseph Biden – acht Tage vor Bekanntgabe des Endergebnisses – am 20. Januar 2021 als 46. Präsident der USA vereidigt. In Venezuela beginnt die Amtszeit des nächsten Präsidenten am 10. Januar 2025. Bis dahin ist Amtsinhaber Nicolás Maduro unstrittig der Staats- und Regierungschef. Sein Land ist also noch meilenweit von Zuständen wie in den USA entfernt. (vh)
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