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Aus: Ausgabe vom 21.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Wahlen

Keinen Doofen gefunden

Die Kandidaten zur Wahl in Thüringen in der Klassikerstadt Weimar
Von Pierre Deason-Tomory
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Schnellster Ministerpräsident aller Zeiten: Thomas Kemmerich von der FDP

In meiner Eigenschaft als Weimarer Volkskorrespondent der jungen Welt werde ich vom Bürger gefragt, welchen der hiesigen Kandidaten wir am 1. September in den Thüringer Landtag wählen sollten. Das ist eine schwierige Frage. Es treten sieben an, und alle sind sie toll! Die Kandidaten sind so gut, dass es das Beste wäre, wenn sie gemeinsam in den Landtag einziehen würden, aber wir müssen uns für einen entscheiden. Vielleicht sollten wir mal einem jungen eine Chance geben …

Lennart Geibert (CDU)

Dieser Nachwuchspolitiker ist der Sohn eines ausrangierten CDU-Abgeordneten und der Mann der Zukunft! Er strebt – wie sein Vorbild, die Grünen-Parteivorsitzende Ricarda Lang – direkt von der Uni ins Parlament. Berufslaufbahn: mehrere Monate Azubi beim Landgericht. Zuvor hat er »Europapolitik« gemacht, genauer: ein Praktikum im Europaparlament. Keine Berufserfahrung plus Grundkenntnisse in Kaffeekochen? Mit dieser Vita wird man in Deutschland Außenministerin, Herr Geibert! Wir drücken Ihnen die Daumen.

Ann-Sophie Bohm (Bündnis 90/Die Grünen)

Aber vielleicht sollten wir doch diese Kandidatin wählen. Schon deshalb, weil sie als junge Politikerin der Grünen gerade für alles verantwortlich gemacht wird, was seit Verdun schiefgelaufen ist. Und das ist total unfair, die Grünen ruinieren Deutschland erst seit drei Jahren. Außerdem ist Frau Bohm sehr fachkundig, sie hat zu allem eine Meinung und weiß über alles Bescheid. Man fragt sich beeindruckt: Woher nimmt sie nur die Zeit, all die Probleme der Welt zu ergründen? Schließlich muss sie jeden Tag 60 bis 70 Fototermine absolvieren. Immer, auch wenn nicht Wahlkampf ist. Kein Biobauer, kein Wildschwein, kein Windrad ist vor ihr sicher. Es gibt von Ann-Sophie Bohm fast so viele Bilder auf Facebook wie von Bodo Ramelow, und der rangiert in Thüringen gleich hinter Taylor Swift. Also Bohm wählen!

Thomas Kemmerich Junior (FDP)

Oder doch den anderen der beiden Abgeordnetensöhne? Der 27jährige Thomas Jeremias Kemmerich tritt in Weimar für die FDP an, in Vertretung für seinen Vater Thomas Karl Leonard Gotthilf Kemmerich. Der darf hier nicht, weil er schon in Erfurt kandidiert. Den alten Kemmerich kennen Sie, der ist als »Schmipaz« in die Geschichte eingegangen, als »Schnellster Ministerpräsident aller Zeiten«. Wurde 2019 von AfD und CDU ins Amt gewählt und trat nach vier Tagen zurück. Zu schade, so ein Kapitalist wie Kümmerlich, pardon, Kemmerich sollte regieren, ein Mann der Wirtschaft, der das Land führen würde wie eine Frittenbude: Alle kriegen Mindestlohn, und der Laden brummt! Ein echter Macher, nach der Wende ohne einen Knopp in der Tasche eingereist, um den Osten zu retten. Wurde Berater für Landwirtschafts- und Handwerksbetriebe. Bauern und Handwerker sterben in Thüringen seitdem aus, aber dem Kemmerich gehören jetzt Grundstücke, eine Uhrenfabrik und eine Friseurkette. Ich glaube, das ist unser Mann! Eigentlich. Wenn er für Weimar keine Zeit hat, nehmen wir halt den Filius.

Marcus Cebulla (AfD)

Ihn oder Herrn Cebulla, den Kandidaten der Höcke-Partei. Ja, warum denn nicht? War nicht alles schlecht, sagte mein einbeiniger Opa aus Ostpreußen immer. Genaugenommen ist der Weimarer Direktkandidat der AfD kein Weimarer, er wohnt in Kleinneuhausen bei Sömmerda, aber das macht nichts. Wir sind ja nicht fremdenfeindlich. Wir wählen auch mal einen Dahergelaufenen mit polnischem Namen. Überhaupt, wir sollten immer AfD wählen! Es ist so ein beruhigendes Gefühl … Man tut was gegen das ganze Elend, aber man weiß ganz genau: Mit dieser Partei wird’s noch schlimmer! Also ein Kreuz bei Cebulla und Haken dran.

Clarsen Ratz (Werteunion)

Auch der wäre ein Kreuz wert, er ist neuerdings Christ. Echter Weimarer mit tadelloser Vergangenheit, war nie in der SED. Die wollte ihn nicht, erinnern sich die Genossen, also ist Ratz Mitglied der CDU geworden. Unter seiner Führung regierten Kohl und Merkel immerhin 24 Jahre lang die BRD, Respekt! Ab 2021 kümmerte er sich um den Wiederaufbau der ruinierten Parteienlandschaft, erst bei der FDP, dann bei den Bürgern für Thüringen und jetzt in der Werteunion. Seinen Mitgliedsantrag bei der Tierschutzpartei soll er zurückgezogen haben. Katzenhaarallergie. Auf seinem Plakat steht: »Ihre Stimme für den Frieden«. Weil Ratz sich vorgenommen hat, als Landtagsabgeordneter den Nahostkonflikt zu lösen und den Ukraine-Krieg zu beenden. Per Gebet. Also werde ich am 1. September dem Kandidaten der Werteunion meine Stimme geben. Wenn es die dann noch gibt.

Ulrike Grosse-Röthig (Die Linke)

Ich soll auch etwas Nettes über die Genossin Grosse-Röthig sagen? Eine Herausforderung. Sie unterlässt es leider, sich andauernd zum Obst zu machen, passt also überhaupt nicht in die Reihe der bisher Gerühmten. Nein, außerdem ist sie nicht angewiesen auf den Job als Abgeordnete, hat einen richtigen Beruf, Anwältin für Sozialrecht. Verteidigt arme Leute vor Gericht, wenn denen Sozialleistungen verweigert werden. Und gewinnt dann auch noch! Was das wieder kostet! Wer soll das alles bezahlen? Und wo kommen wir denn da hin, wenn Leute im Parlament sitzen, die ohne Finger bis drei zählen und künftig Höckes Gesetzestexte lesen können? Apropos zählen …

Hier fehlen noch welche!

Nämlich die Kandidaten von FW und BSW. Den von den Freien Wählern kennt kein Schwein, und das Bündnis Sahras Wagenbricht hat keinen. Warum? Erstens gibt es in Weimar mit CDU und FDP bereits zwei familiengeführte Parteiunternehmen. Und zweitens produziert das Firmengründerpaar nicht genug eigenen Nachwuchs, um BSW-Filialen in allen Kleinstädten aufmachen zu können. Und Sahra und Oskar haben in Weimar keinen Doofen gefunden, der sich für 6.000 Landtags-Euros im Monat von ihnen adoptieren lässt.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (21. August 2024 um 07:23 Uhr)
    »Oh Thüringen, mein Heimatland, wie bist du doch so schön...« Herzlichen Dank Pierre Deason-Tomory für die glänzende Beschreibung dessen, welch ein »Segen« es für die Thüringer sein wird, in Kürze wählen zu dürfen. Gewiss nicht nur in Weimar meist lediglich zwischen Pest und Cholera. »Demokratie« in Reinkultur eben. Die Zeit, in der die Hochkultur im Land an der Ilm ihre Heimat hatte, ist lange vorbei.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (20. August 2024 um 22:32 Uhr)
    So ein Scheiss, jetzt weiss ich wen ich wählen soll und darf nicht! Von wegen »allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim«. Da werden die Ossis mal wieder bevorzugt, das sag' ich Frau Baerbock!

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