75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 12. September 2024, Nr. 213
Die junge Welt wird von 2927 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 21.08.2024, Seite 15 / Antifaschismus
Debatte

Faschistische Mimikry

Tricontinental-Institut legt zehn Thesen zur »extremen Rechten besonderer Art« als internationale Formation vor
Von Vijay Prashad
15.JPG
»Störtrupp«: Neonazis posieren am Leipziger Hauptbahnhof während des Christopher Street Day (17.8.2024)

Das Tricontinental-Institut für Sozialforschung hat am 15. August einen Essay von Vijay Prashad veröffentlicht. Darin formuliert der Autor zehn Thesen zur »extremen Rechten der besonderen Art«. Wir veröffentlichen an dieser Stelle die geringfügig bearbeitete Übersetzung des Zetkin-Forums für Sozialforschung und danken dem Autor, dem Institut sowie dem Forum für die Genehmigung zum Abdruck. (jW)

Liberale verwenden das Wort »Faschismus«, um sich von der extremen Rechten zu distanzieren. Die Verwendung des Begriffs ist eher moralistisch als präzise, da sie die Nähe zwischen Liberalen und der extremen Rechten leugnet. Zu diesem Zweck haben wir zehn Thesen zu dieser extremen Rechten besonderer Art formuliert, von denen wir hoffen, dass sie Diskussionen und Debatten auslösen werden. Dies ist eine vorläufige Erklärung, eine Einladung zum Dialog.

These 1. Die extreme Rechte der besonderen Art nutzt die demokratischen Instrumente so weit wie möglich. Sie glaubt an den Prozess, der als »langer Marsch durch die Institutionen« bekannt ist, durch den sie geduldig politische Macht aufbaut und die bestehenden Institutionen der liberalen Demokratie mit ihren Kadern besetzt, die dann ihre Ansichten in das Mainstreamdenken einbringen. Auch Bildungseinrichtungen sind für die extreme Rechte der besonderen Art von zentraler Bedeutung, da sie die Lehrpläne in ihren jeweiligen Ländern bestimmen. Es gibt keinen Grund für die extreme Rechte besonderer Art, diese demokratischen Institutionen beiseite zu schieben, solange sie den Weg zur Macht nicht nur über den Staat, sondern auch über die Gesellschaft bieten.

These 2. Die extreme Rechte der besonderen Art treibt den Rückbau des Staates und die Verlagerung seiner Aufgaben in den privaten Sektor voran. Der Hang zur Austerität in den Vereinigten Staaten zum Beispiel trägt dazu bei, die Quantität und Qualität der Kader in zentralen staatlichen Einrichtungen wie dem US-Außenministerium zu verringern. Viele der Aufgaben solcher Institutionen, die jetzt privatisiert sind, werden statt dessen von Nichtregierungsorganisationen wahrgenommen, die von neu entstehenden Milliardärskapitalisten wie Charles Koch, George Soros, Pierre Omidyar und Bill Gates geleitet werden.

These 3. Die extreme Rechte der besonderen Art nutzt den Repressionsapparat des Staates im Rahmen des rechtlich Zulässigen, um ihre Kritikerinnen und Kritiker zum Schweigen zu bringen sowie Bewegungen der wirtschaftlichen und politischen Opposition zu demobilisieren. Liberale Verfassungen bieten einen weiten Spielraum für diese Art des Einsatzes, den liberale politische Kräfte im Laufe der Zeit ausgenutzt haben, um jeglichen Widerstand der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Linken zu unterdrücken.

These 4. Die extreme Rechte der besonderen Art schürt dosierte Gewalt in der Gesellschaft durch die faschistischeren Elemente innerhalb ihrer politischen Koalition, um Angst zu erzeugen, aber nicht genug Angst, um die Menschen gegen sie aufzubringen. Die meisten Menschen aus der Mittelschicht auf der ganzen Welt streben nach Bequemlichkeit und stören sich an Unannehmlichkeiten, die ihnen entstehen (etwa durch Unruhen usw.). Wenn es aber doch einmal geschieht, wird die Ermordung eines Gewerkschaftsführers oder die Einschüchterung einer Journalistin nicht der extremen Rechten der besonderen Art angelastet, die jegliche direkte Verbindung mit den faschistischen Randgruppen abstreitet (obschon diese organisch mit der extremen Rechten verbunden sind).

These 5. Die extreme Rechte der besonderen Art bietet eine gewisse Antwort auf die Vereinsamung, die in das Geflecht der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft eingewoben ist. Diese Vereinsamung rührt von der Entfremdung durch prekäre Arbeitsbedingungen und lange Arbeitszeiten her, die die Möglichkeit, eine lebendige Gemeinschaft und ein soziales Leben aufzubauen, untergraben. Diese extreme Rechte baut keine wirkliche Gemeinschaft auf, es sei denn, es handelt sich um eine parasitäre Beziehung zu religiösen Gemeinschaften. Statt dessen entwickelt sie die Idee einer Gemeinschaft: einer Internetgemeinschaft oder einer Gemeinschaft durch massenhafte Mobilisierungen von Einzelpersonen oder einer Gemeinschaft durch gemeinsame Symbole und Gesten. Der immense Hunger nach Gemeinschaft wird von der extremen Rechten scheinbar befriedigt, während die Einsamkeitsgefühle eher in Wut als in Liebe umschlagen.

These 6. Die extreme Rechte der besonderen Art nutzt ihre Nähe zu privaten Medienkonglomeraten, um ihren Diskurs gesellschaftlich zu normalisieren, und ihre Nähe zu den Besitzern sozialer Medien, um die Akzeptanz ihrer Ideen zu erhöhen. Ihre hochgradig agitatorische Rhetorik schafft einen Rausch, der Teile der Bevölkerung entweder online oder auf der Straße zur Teilnahme an Kundgebungen mobilisiert, bei denen sie dennoch eher Individuen als Mitglieder eines Kollektivs bleiben. Das Gefühl der Vereinsamung, das die kapitalistische Entfremdung hervorruft, wird für einen Moment gemildert, aber nicht überwunden.

These 7. Die extreme Rechte der besonderen Art ist eine wuchernde Organisation, die ihre Wurzeln in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft hat. Sie ist überall dort aktiv, wo Menschen zusammenkommen, sei es in Sportvereinen oder Wohlfahrtsverbänden. Sie zielt darauf ab, eine Massenbasis in der Gesellschaft aufzubauen, die in der jeweiligen Mehrheitsidentität verwurzelt ist (sei dies Ethnie, Religion oder Nationalgefühl), indem sie jede Minderheit ausgrenzt und dämonisiert. In vielen Ländern stützt sich die extreme Rechte auf religiöse Strukturen und Netzwerke, um eine konservative Auffassung von Gesellschaft und Familie immer tiefer zu verankern.

These 8. Die extreme Rechte der besonderen Art greift die Institutionen der Macht an, die die Grundlage ihrer soziopolitischen Basis bilden. Sie erweckt die Illusion, eher plebejisch als bürgerlich zu sein, während sie in Wirklichkeit im Schoß der Oligarchie sitzt. Sie erweckt die Illusion des Volkstums, indem sie eine höchst maskuline Form des Hypernationalismus entwickelt, dessen Dekadenz in ihrer hässlichen Rhetorik durchscheint. Die extreme Rechte nutzt diesen Hypernationalismus, während sie gleichzeitig ihre angebliche Opferrolle gegenüber der Macht ausspielt.

These 9. Die extreme Rechte der besonderen Art ist eine internationale Formation, die über verschiedene Plattformen wie Steve Bannons »The Movement« (mit Sitz in Brüssel), das »Madrid Forum« der Vox-Partei (mit Sitz in Spanien) und die Anti-LGBTQ+ »Fellowship Foundation« (mit Sitz in Seattle, Washington) organisiert ist. Diese Gruppen sind in einem politischen Projekt der Transatlantiker verwurzelt, das die Rolle der Rechten im globalen Süden stärkt und sie mit den Mitteln ausstattet, um rechte Ideen dort zu vertiefen, wo sie wenig fruchtbaren Boden haben. Sie schaffen neue »Probleme«, die es in diesem Ausmaß vorher nicht gab, wie die Aufregung um sexuelle Orientierung in Ostafrika. Diese neuen »Probleme« schwächen die Volksbewegungen und festigen den Einfluss der Rechten auf die Gesellschaft.

These 10. Obwohl sich die extreme Rechte der besonderen Art als globales Phänomen darstellen könnte, gibt es Unterschiede zwischen ihrer Ausprägung in den führenden imperialistischen Ländern und im globalen Süden. Im globalen Norden verteidigen sowohl die Liberalen als auch die extreme Rechte energisch die Privilegien, die sie in den letzten 500 Jahren durch Ausplünderung erlangt haben – mit militärischen und anderen Mitteln –, während im globalen Süden die allgemeine Tendenz aller politischen Kräfte darin besteht, Souveränität herzustellen.

In einer durch Hyperimperialismus geprägten Zeit entsteht eine besondere Art der extremen Rechten, die die Tatsache ihrer abscheulichen Macht verschleiert und so tut, als ob sie sich um die einzelnen Menschen kümmert, denen sie statt dessen schadet. Sie kennt die menschliche Torheit gut und macht sich diese zunutze.

Infobox: Vijay Prashad ist Historiker und Journalist. Er leitet das Tricontinental-Institut für Sozialforschung und veröffentlichte bereits mehr als 40 Bücher, darunter »Washington Bullets: A History of the CIA, Coups and Assassinations« und »Red Star Over the Third World«

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!